Quecksilbervergiftung


Klassifikation nach ICD-10
T56.1 Toxische Wirkung: Quecksilber und dessen Verbindungen
ICD-10 online (WHO-Version 2019)

Eine Quecksilbervergiftung (Merkurialismus) ist eine Vergiftung mit dem Metall Quecksilber.

Quecksilber ist ein giftiges Schwermetall. Metallisches Quecksilber, das schon bei Raumtemperatur und normalen Druckverhältnissen flüssig ist, ist in diesem Aggregatzustand noch relativ ungefährlich. Es verdunstet jedoch bereits bei Raumtemperatur und bildet giftige Dämpfe. Besonders toxisch sind organische Verbindungen des Quecksilbers, zum Beispiel Methylquecksilber.

Mit Quecksilber in Kontakt kommen kann man z. B. durch Quecksilberthermometer oder Energiesparlampen, die beim Zerbrechen Quecksilber freisetzen. Moderne Ausdehnungsthermometer sind meist mit ungefährlichen Flüssigkeiten wie zum Beispiel Ethanol befüllt. Die Vergiftung wird oft durch die direkte Aufnahme der Dämpfe des Quecksilbers hervorgerufen. Man spricht dabei von einer akuten Vergiftung. Auch chronische Vergiftungen sind möglich, wenn man über längere Zeit geringen Mengen ausgesetzt ist.

Wirkung des Quecksilbers auf den Organismus

Im Körper kann Quecksilber (insbesondere Hg2+-Ionen) gut vom Darm resorbiert werden. In die Blutlaufbahn gelangt, können diese Ionen dann auf verschiedene Art toxische Wirkung entfalten. Hierzu zählt z. B. die Methylierung von Quecksilber durch Methyltransferasen. Hierdurch schädigt sich der Organismus selbst, indem er ein starkes Gift aufbaut (Dimethylquecksilber), das zudem besser durch Membranen transportiert werden kann als Quecksilber selbst. Dadurch ist eine schnelle Ausbreitung im Körper möglich.

Zudem besitzen Quecksilber-Ionen eine hohe Affinität zu Schwefel, der vor allem in Proteinen vorkommt. Quecksilber zerstört Proteine durch Wechselwirkungen mit deren Schwefelatomen oder spaltet Schwefelbrücken auf, die für den komplexen Bau und damit die Funktion der Proteine unverzichtbar sind. Besonders Nervengewebe ist von letzterer Interaktion stark betroffen, woraus sich die unten genannten Symptome (Störung der ZNS-Funktion) ergeben.[1]

Akute Vergiftung

Die ersten Symptome einer akuten Vergiftung sind:

  • Kopfschmerzen
  • Übelkeit
  • Schwindel
  • trockener Mund-Rachen-Raum

Es muss sofort ein Arzt aufgesucht, da die Schäden meist irreparabel sind, wenn nicht sofort Gegenmaßnahmen ergriffen werden. Als tödlich wird eine Menge von 150–300 mg angesehen. Langzeitschäden sind oft Nieren- und Leberschäden. Aufbauend auf umfangreichen Sicherheitsuntersuchungen für die mit 20000 kg Quecksilber betriebene Spallationsneutronenquelle SNS in den USA hat die amerikanische Umweltbehörde EPA 2010 erstmals Richtwerte (Acute exposure guideline level AEGL) für akute Vergiftungen mit Quecksilberdampf veröffentlicht. [2]

Ein berühmtes Beispiel für eine akute Vergiftung mit Dimethylquecksilber ist die US-amerikanische Forscherin Karen Wetterhahn. Bei ihr traten die ersten Symptome Monate nach dem Arbeitsunfall auf, an den sie sich erst dann erinnerte. Ein knappes Jahr später verstarb sie an den Folgen.

Bei einem zerbrochenen Quecksilberthermometer dürfte die Menge der austretenden Dämpfe zu gering sein, um akute oder chronische Vergiftungserscheinungen zu verursachen.[3]

Chronische Vergiftung

Wesentlich häufiger sind chronische Vergiftungen durch geringe Dosen Quecksilber, das über die Nahrung aufgenommen wird (Minamata-Krankheit). Wird Quecksilber in einem geschlossenen Raum verschüttet, so kann es versickern und noch lange giftige Dämpfe bilden. Das in der Zahnmedizin verwendete Amalgam wird als weitere Ursache chronischer Quecksilbervergiftungen kontrovers diskutiert: Einige Wissenschaftler weisen auf seine Anfälligkeit gegenüber Verarbeitungsfehlern hin,[4] andere stufen es als unbedenklich ein.[5]

Quecksilber wird noch heute in der Goldgewinnung (Amalgamverfahren) insbesondere in Kleinminen der Dritten Welt eingesetzt. [6] [7]

Im 18. Jahrhundert traten chronische Vergiftungen bei einigen Berufsgruppen auf, die häufigen Umgang mit Quecksilber- und Quecksilbersalzen hatten (→ „Hutmachersyndrom“). Zu dieser Zeit wurden noch viele und oft angewendete quecksilberhaltige Arzneimittel hergestellt. Als Wirkstoff gibt es Quecksilbersalze heute nur noch in homöopathischen Produkten. Als Konservierungsmittel wird vereinzelt noch das quecksilberhaltige Thiomersal in Augentropfen und einigen wenigen Impfstoffen eingesetzt.[8]

Ein berühmtes Beispiel für eine chronische Vergiftung ist der deutsche Chemiker Alfred Stock, der in seinem Labor sehr viel anorganisches Quecksilber hatte. Mit einem Artikel über Die Gefährlichkeit des Quecksilberdampfes löste er in den 1920er Jahren einen „polemischen Schlagabtausch konträr gesinnter Wissenschaftler“[9] aus.

Mögliche Ursachen für eine chronische Vergiftung sind die Aufnahme von Quecksilber am Arbeitsplatz, über die Nahrung oder Zahnmetall, durch Unfälle (alte Fieberthermometer mit Hg, zerbrochene Leuchtstofflampen (Hg-Dampf, 1-5 mg)) und Energiesparlampen und über die Haut durch Bleichmittel[10].

Fundstellen von Quecksilber im menschlichen Körper:

  • Gebiss (Zähne, Wurzeln, Kieferknochen)
  • Rückenmark
  • Gehirn (Psellismus mercurialis)
  • Innere Organe
  • Nervenbahnen
  • Blut
  • Urin und Stuhl
  • Muttermilch

Bei Schwangeren geht das Gift über die Nabelvene auf den Fötus über. In Minamata kamen viele Säuglinge mit Behinderungen auf die Welt, nachdem ihre Mütter mit Methylquecksilber belasteten Fisch verzehrt hatten.[11] Der Konsum von Seefisch erhöht die Quecksilberbelastung des Fötus.[12][13] Die Auswirkungen geringer Exposition durch Fischkonsum sind unklar.[14] Auch niedrige Dosen Quecksilber gelangen langfristig in den Fötus, wenn die Mutter Amalgamfüllungen trägt. Die Menge des Quecksilbers in Nabelschnurblut und Kindergehirnen korreliert mit der Anzahl der Amalgamfüllungen der Mütter.[15][16] Bereits bei einer Quecksilberkonzentration von 7µg/g tritt im fötalen Gehirn eine reaktive Astrogliose auf Zellebene ein[17], wobei es jedoch keine genaueren Untersuchungen zur Wirkung dieser Exposition in vivo gibt.

Therapie der Quecksilbervergiftung

Eine Vergiftung mit Quecksilber wird mit einem Antidot („Gegengift“) behandelt. Zum Einsatz kommen sogenannte Komplexbildner, also Substanzen, die einen Metallkomplex mit dem Quecksilber als Zentralatom eingehen. Diese Komplexe können von der Niere erheblich leichter aus dem Blut filtriert werden. Es werden vor allem die besser wasserlösliche Dimercaptopropansulfonsäure (DMPS) und (manchmal bei zerebralem Befall) die Dimercaptobernsteinsäure (DMSA) eingesetzt. Diese beiden Substanzen besitzen zwei benachbarte Sulfhydryl-Gruppen (-SH), die mit dem Quecksilberatom stabile Chelatkomplexe (griech. Χηλή „chele“ für „Krebsschere“)[18] bilden, indem sie wie die Greifer einer Krebsschere das Hg-Atom zwischen sich binden.

Bei Methylquecksilber-Vergiftungen ist Acetylcystein (NAC) im Tierversuch wirksam.[19] Es greift im Gegensatz zu den Chelatbildnern DMPS und DMSA nicht in den Mineralienhaushalt ein. Es hat keine Wirkung gegen anorganisches Quecksilber, die Anwendung wird von Fachgesellschaften nicht empfohlen.

Der Gebrauch von Mineralstoffen zur Quecksilberausleitung ist medizinisch nicht etabliert. Für die Anwendung von Zink als Antidot der Quecksilbervergiftung existiert kein eindeutiger Nachweis eines medizinischen Vorteils. Selen vermindert (zugeführt als Na-Selenit im Tierversuch) die Effektivität der Antidote DMSA und DMPS[20] und zeigt keinen medizinischen Nutzen[21] beim Einsatz gegen eine Quecksilbervergiftung.

Einzelnachweise

  1. Toxizität von Quecksilber
  2. http://www.epa.gov/opptintr/aegl/pubs/rest184.htm
  3. Umweltlexikon des Instituts für angewandte Umweltforschung in Köln
  4. O. Wassermann, N. Weitz, C. Alsen-Hinrichs: „Kieler Amalgam-Gutachten 1997. Medizinische, insbesondere toxische Feststellungen im Zusammenhang mit einer rechtlichen Beurteilung der Herstellung und des Vertriebs von Amalgam als Material für Zahnfüllungen. Institut für Toxikologie im Klinikum der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel“, S. 93-105. ISBN 3-00-002089-6
  5. Dieter Melchart et al: Treatment of health complaints attributed to amalgam. In: Journal of Dental Research. April, 2008, S. 349–353 (Abstract).
  6. http://seniorinnen.gruene.at/umweltverkehr/artikel/lesen/38360/
  7. http://quecksilber.files.wordpress.com/2008/11/2008-1-hg_s04-gold.pdf
  8. Max Daunderer: „Gifte im Alltag. Wo sie vorkommen. Wie sie wirken. Wie man sich dagegen schützt“. Verlag C. H. Beck, München 2005, S. 166f
  9. http://d-nb.info/971084297/34, Seite 39 und Seiten 29 ff., abgerufen am 14. Juli 2009
  10. Allan S.: Whitening skin can be deadly; Boston Globe; 12/16/2003 abgerufen am 8. Juli 2009
  11. 10 Fakten über die Minamata-Krankheit, abgerufen am 6. Juli 2007
  12. Björnberg KA, Vahter M, Petersson-Grawé K, et al.: Methyl mercury and inorganic mercury in Swedish pregnant women and in cord blood: influence of fish consumption. In: Environ. Health Perspect. 111. Jahrgang, Nr. 4, April 2003, S. 637–41, PMID 12676628, PMC 1241457 (freier Volltext) – (nih.gov).
  13. Lederman SA, Jones RL, Caldwell KL, et al.: Relation between cord blood mercury levels and early child development in a World Trade Center cohort. In: Environ. Health Perspect. 116. Jahrgang, Nr. 8, August 2008, S. 1085–91, doi:10.1289/ehp.10831, PMID 18709170, PMC 2516590 (freier Volltext).
  14. Huang LS, Myers GJ, Davidson PW, et al.: Is susceptibility to prenatal methylmercury exposure from fish consumption non-homogeneous? Tree-structured analysis for the Seychelles Child Development Study. In: Neurotoxicology. 28. Jahrgang, Nr. 6, November 2007, S. 1237–44, doi:10.1016/j.neuro.2007.08.009, PMID 17942158, PMC 2219920 (freier Volltext) – (elsevier.com).
  15. Drasch G, Schupp I, Höfl H, Reinke R, Roider G: Mercury burden of human fetal and infant tissues. In: Eur. J. Pediatr. 153. Jahrgang, Nr. 8, August 1994, S. 607–10, PMID 7957411.
  16. Palkovicova L, Ursinyova M, Masanova V, Yu Z, Hertz-Picciotto I: Maternal amalgam dental fillings as the source of mercury exposure in developing fetus and newborn. In: J Expo Sci Environ Epidemiol. 18. Jahrgang, Nr. 3, Mai 2008, S. 326–31, doi:10.1038/sj.jes.7500606, PMID 17851449.
  17. Keim, C.T.: Die Auswirkungen chronischer prä- und postnataler Quecksilberbelastung auf die Stärke der reaktiven Astrogliose in der Medulla Oblongata innerhalb der ersten 24 Lebensmonaten des Menschen - eine Untersuchung an 76 Leichen, Diss. Berlin 2000.
  18. W. Forth, D. Henschler, W.Rummel: „Allgemeine und spezielle Pharmakologie und Toxikologie“. Bibliographisches Institut 1975.
  19. Ballatori N, Lieberman MW, Wang W: N-acetylcysteine as an antidote in methylmercury poisoning. In: Environ. Health Perspect. 106. Jahrgang, Nr. 5, Mai 1998, S. 267–71, PMID 9520359, PMC 1533084 (freier Volltext).
  20. Juresa D, Blanusa M, Kostial K: „Simultaneous administration of sodium selenite and mercuric chloride decreases efficacy of DMSA and DMPS in mercury elimination in rats.“ Toxicol Lett. 2005 Jan 15;155(1):97-102. PMID 15585364
  21. Hansen JC: „Has selenium a beneficial role in human exposure to inorganic mercury?“ Med Hypotheses. 1988 Jan;25(1):45-53. PMID 3278198

Weblinks

Wiktionary: Quecksilbervergiftung – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen