Rudolf Boehm (Pharmakologe)


Rudolf Boehm, eigentlich Rudolph Albert Martin Boehm (* 19. Mai 1844 in Nördlingen; † 19. August 1926 in Bad Kohlgrub, Oberbayern) war ein deutscher Mediziner und Pharmakologe.

Leben

Grabstätte Rudolf Boehm auf dem Südfriedhof in Leipzig

Sohn eines Arztes, studierte er in München und Würzburg Medizin und wurde in Würzburg zum Doktor der Medizin promoviert. (Angaben, er habe auch in Leipzig studiert und sei dort promoviert worden, sind falsch.[1]) Auf Wunsch des Vaters wählte er zunächst ein klinisches Fach und wurde Assistent in der Psychiatrischen Klinik am Würzburger Juliusspital. Der Klinikleiter, Franz von Rinecker, ein vielseitiger Gelehrter, erkannte Boehms Interesse an experimentellen Arbeiten und empfahl ihm wohl, bei Carl Ludwig in Leipzig seine physiologische Ausbildung zu vertiefen. Hier traf er unter anderen den Entdecker der Nukleinsäuren Friedrich Miescher und den Pharmakologen Oswald Schmiedeberg, der bereits Professor in Dorpat war, dem heutigen Tartu in Estland. In Leipzig begann Boehm seine Studien über Herzgifte, in denen er an Froschherzen die Wirkung von Alkaloiden wie Muscarin, Nikotin und Veratrin untersuchte und mit denen er sich 1871 bei Adolf Fick in Würzburg für Physiologie habilitierte.[2] 1872 übernahm er von Schmiedeberg, der im selben Jahr nach Straßburg berufen wurde, den Lehrstuhl für Pharmakologie, Diätetik und Geschichte der Medizin in Dorpat. Von 1881 bis 1884 war er Professor für Pharmakologie in Marburg, von 1884 bis zu seiner Emeritierung 1921 Professor für Pharmakologie in Leipzig. Hier wurde nach seinen Plänen ein für die damalige Zeit vorbildliches Institut gebaut, das im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde.[1][3] Im Jahre 1888 wurde Boehm zum Mitglied der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina gewählt.[4]

Forschung

Allgemeines

Boehm hat die Pharmakologie und Toxikologie vieler Substanzen untersucht. Besonders eindringlich hat er sich mit Pflanzen beschäftigt, in denen er, dem Beispiel des Entdeckers des Morphins Friedrich Sertürner folgend, nach den wirksamen Inhaltsstoffen suchte. Dazu gehörte zum Beispiel der Wurmfarn.[5] Im wichtigsten Handbuch seines Fachs, dem von seinem Schüler Arthur Heffter herausgegebenen Handbuch der experimentellen Pharmakologie, heute Handbook of Experimental Pharmacology, schrieb er 1920 die Kapitel über die Aconitingruppe (Inhaltsstoffe des Blauen Eisenhuts), über Veratrin und Protoveratrin (Inhaltsstoffe des Weißen Germer, Veratrum album) sowie über Curare und Curarealkaloide.[6][7][8] Von Boehms Arbeiten zu den Inhaltsstoffen des Weißen Germer ist Otto Krayer bei seiner weiterführenden Erforschung dieser Stoffe ausgegangen.

Curare

Datei:Curare-Präparate.jpg
Curare-Präparate, zusammengestellt aus Boehms Originalen[9]

Am bekanntesten, und bis heute in der praktischen Medizin nachwirkend, wurden Boehms Forschungen zum Curare. Er teilte die Curarepräparate in drei Sorten ein:[6] „Das südamerikanische Pfeilgift Curare … wird von Indianerstämmen im äquatorialen Südamerika in den Flußgebieten des Orinoco und Amazonas fabriziert und gelangt in sehr unregelmäßiger Zufuhr, neuerdings wieder sehr spärlich, in den europäischen Handel. Der Emballage und auch den chemischen Bestandteilen nach sind drei Sorten zu unterscheiden: 1. Kalebassencurare (in Kürbisschalen, Gourds), 2. Topfcurare (in kleinen Tontöpfchen), 3. Tubocurare (in Bambusröhren).“

1912 führte der Chirurg Arthur Läwen in Leipzig zum ersten Mal bei der Operation eines Menschen eine Muskelrelaxation durch. Er schrieb: „Ein großer Uebelstand bei oberflächlicher Narkose ist der, daß die Kranken namentlich bei der Bauchdeckennaht die Bauchmuskulatur übermäßig anspannen, so daß eine ordnungsgemäße Schichtnaht sehr erschwert wird. … Gerade diese Bauchdeckenspannung ist schuld daran, daß im letzten Stadium der Operation noch oft tief narkotisiert wird. Hierdurch wird wieder die Gefahr der Ueberdosierung in die Nähe gerückt. Ich habe nun Versuche angestellt, diese Anspannung der Bauchmuskulatur auf andere Weise zu verhindern. Ich habe hierzu Curarin benutzt, die von Boehm aus den Curare-Präparaten hergestellte wirksame Substanz. Das Curarin hat vor den Curaredrogen der großen Vorzug, ein exakt dosierbares Präparat zu sein, bei dem mit absoluter Zuverlässigkeit der gleichen Dosis immer die gleiche Wirkung entspricht. Mit den gewöhnlichen Curarepräparaten würde ich es nie gewagt haben, am Menschen Versuche anzustellen. … Die Wirkung bei der Bauchdeckennaht (war) sehr deutlich und angenehm. … Leider ist zurzeit die Curaredroge in genügender Menge nicht zu beschaffen.“[10] Vielleicht war es dieser Mangel an Nachschub, der Läwens Gedanken und Beobachtungen in Vergessenheit geraten ließ: Sie kamen zu früh für die Zeitumstände. Jedenfalls wussten die amerikanischen Ärzte, die 1942 Curarepräparate für alle Zukunft in die Anästhesiologie einführten, anscheinend nichts mehr von ihm.[11]

Auf der Grundlage von Boehms Werk gelang schließlich 1935 die Aufklärung der chemischen Struktur des Tubocurarins: „The South American arrow poisons known as curare were shown by Boehm … to be of three kinds, distinguished primarily by their containers and secondarily by their different chemical characteristics. … An opportunity arose of examining the three types of curare described by Boehm, and I have been able to confirm the fundamental soundness of his observations.“[12] Der schweizerisch-italienische Pharmakologe und Empfänger des Nobelpreises für Physiologie oder Medizin 1957 Daniel Bovet urteilte 1948 (aus dem Französischen): „Noch heute muss man von der Klassifikation Boehms ausgehen, wenn man ein Gesamtbild des geographischen Ursprungs, der Handelsformen und des Gebrauchs der Curarepräparate gewinnen will.“[13]

Die Boehmsche Pharmakologenschule

Die größte Pharmakologenschule im deutschen Sprachbereich geht auf Rudolf Buchheim und Oswald Schmiedeberg zurück, die zweitgrößte auf Rudolf Boehm.[14] Zu seinen unmittelbaren Schülern gehörten Arthur Heffter (1859–1925), Ordinarius zuerst in Bern, Walther Straub (1874–1944), Ordinarius zuerst in Marburg, Oscar Gros (1877–1947), Ordinarius zuerst in Halle, Josef Schüller (1888–1968), Ordinarius in Köln, und Fritz Külz (1887–1949), Ordinarius zuerst in Kiel. Von Jüngeren seien nur Otto Krayer (1899–1982) und Melchior Reiter (1919–2007) genannt; Krayer hat die Boehmsche Schule in einem Buch dargestellt, das Reiter 1998 herausgegeben hat.[15]

1999 hat sich das Pharmakologische Institut Leipzig den Namen Rudolf-Boehm-Institut für Pharmakologie und Toxikologie gegeben.[16]

Weblinks

Einzelnachweise

  1. 1,0 1,1 Matthias Hennig: Leben und Werk des Pharmakologen Rudolf Boehm (1844–1926). Dissertation. Leipzig 2000.
  2. R. Boehm: Studien über Herzgifte. Stubers Buchhandlung, Würzburg 1872.
  3. Johannes Büttner: Boehm, Rudolf. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 2, Duncker & Humblot, Berlin 1955, ISBN 3-428-00183-4, S. 379 (Digitalisat).
  4. Mitgliedseintrag von Rudolf Boehm bei der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina, abgerufen am 12. Oktober 2012.
  5. W. Straub: Die Filixgruppe. In A. Heffter (Hrsg.): Handbuch der experimentellen Pharmakologie. Zweiter Band. Springer, Berlin 1924, S. 1548–1562.
  6. 6,0 6,1 R. Boehm: Curare und Curarealkaloide. In: A. Heffter (Hrsg.): Handbuch der experimentellen Pharmakologie. Zweiter Band. Springer, Berlin 1920, S. 179–248.
  7. R. Boehm: Veratrin und Protoveratrin. In A. Heffter (Hrsg.): Handbuch der experimentellen Pharmakologie. Zweiter Band. Springer, Berlin 1920, S. 249–282.
  8. R. Boehm: Die Aconitingruppe. In: A. Heffter (Hrsg.): Handbuch der experimentellen Pharmakologie. Zweiter Band. Springer, Berlin 1920, S. 283–319.
  9. Rudolf Böhm: Das südamerikanische Pfeilgift Curare in chemischer und pharmakologischer Beziehung. In: Abhandlungen der mathematisch-physischen Classe der königlich sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften. 20, 1895, S. 201–238 und 24, 1897, S. 3–52.
  10. A. Läwen: Ueber die Verbindung der Lokalanästhesie mit der Narkose, über hohe Extraduralanästhesie und epidurale Injektionen anästhesierender Lösungen bei tabischen Magenkrisen. In Beiträge zur klinischen Chirurgie. 80, 1912, S. 168–189.
  11. Harold R. Griffith, G. Enid Johnson: The use of curare in general anaesthesia. In: Anesthesiology. 3, 1942, S. 418–420.
  12. Harold King: Curare alkaloids. Part I. Tubocurarine. In: Journal of the Chemical Society. 1935, S. 1381–1389.
  13. Wolf-Dieter Wiezorek, Martin Müller: Rudolf Boehms Beitrag zur Erforschung des Kurare. In: NTM Schriftenreihe für Geschichte der Naturwissenschaften, Technik und Medizin. 12/2, 1975, S. 97–107.
  14. Jürgen Lindner, Heinz Lüllmann: Pharmakologische Institute und Biographien ihrer Leiter. Editio Cantor, Aulendorf 1996, ISBN 3-87193-172-1.
  15. Otto Krayer: Rudolf Boehm und seine Pharmakologenschule. Zuckerschwerdt, München 1998, ISBN 3-88603-635-9.
  16. Website des Rudolf-Boehm-Instituts für Pharmakologie und Toxikologie mit Fotos von Boehm

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