Nicotin


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Strukturformel
Struktur von Nicotin
Naturstoff Nicotin
Allgemeines
Name Nicotin
Andere Namen
  • Nikotin
  • (S)-Nicotin
  • (S)-(–)-3-(1-Methyl-pyrrolidin-2-yl)pyridin
  • (S)-(–)-1-Methyl-2-(3-pyridyl)pyrrolidin
  • L-3-Pyridyl-N-methylpyrrolidin
Summenformel C10H14N2
Kurzbeschreibung

farblose bis bräunliche ölige Flüssigkeit mit tabak- (pyridin-)artigem Geruch[1]

Externe Identifikatoren/Datenbanken
CAS-Nummer 54-11-5
EG-Nummer 200-193-3
ECHA-InfoCard 100.000.177
PubChem 942
DrugBank APRD00200
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Arzneistoffangaben
ATC-Code

N07BA01

Wirkstoffklasse

Mittel zur Raucherentwöhnung

Eigenschaften
Molare Masse 162,23 g·mol−1
Aggregatzustand

flüssig

Dichte

1,01 g·cm−3[1]

Schmelzpunkt

−79 °C[1]

Siedepunkt

246 °C[1]

Dampfdruck

5,6 Pa (20 °C)[1]

pKS-Wert
  • pKb1 = 6,16 (Pyrrolidin-N, 15 °C)[2]
  • pKb2 = 10,96 (Pyridin-N, 15 °C)[2]
  • pKs1 = 3,2 (Pyridin-N, 25 °C)[2]
  • pKs2 = 7,9 (Pyrrolidin-N, 25 °C)[2]
Löslichkeit

leicht in Wasser, Ethanol, Diethylether und Chloroform, mischbar mit vielen organischen Lösungsmitteln[3]

Brechungsindex

1,5282 (20 °C)[4]

Sicherheitshinweise
Bitte die Befreiung von der Kennzeichnungspflicht für Arzneimittel, Medizinprodukte, Kosmetika, Lebensmittel und Futtermittel beachten
GHS-Gefahrstoffkennzeichnung aus Verordnung (EG) Nr. 1272/2008 (CLP),[5] ggf. erweitert[1]
Gefahrensymbol Gefahrensymbol

Gefahr

H- und P-Sätze H: 300​‐​310​‐​330​‐​411
P: ?
MAK

Schweiz: 0,07 ml·m−3 bzw. 0,5 mg·m−3[6]

Toxikologische Daten
Soweit möglich und gebräuchlich, werden SI-Einheiten verwendet. Wenn nicht anders vermerkt, gelten die angegebenen Daten bei Standardbedingungen. Brechungsindex: Na-D-Linie, 20 °C

Nicotin, auch Nikotin, ist ein natürlich in den Blättern der Tabakpflanze sowie in geringerer Konzentration auch in anderen Nachtschattengewächsen vorkommendes Alkaloid, das erregende oder lähmende Wirkungen auf Ganglien des vegetativen Nervensystem[8] hat. Selten werden Nicotinderivate als Nicotinoide[9] bezeichnet; meist sind damit die synthetischen, als Insektizide eingesetzten Neonicotinoide[10] gemeint.

Geschichte

Die Tabakpflanze wurde in Amerika von den Maya spätestens seit dem 10. Jahrhundert rituell konsumiert. Im Jahr 1492 wurde Christoph Columbus bei Ankunft in der neuen Welt getrockneter Tabak präsentiert.[11] Der Botschafter Frankreichs in Portugal, Jean Nicot de Villemain, sandte im Jahr 1560 Samen von Nicotiana tabacum an den französischen König, der ihre medizinische Verwendung förderte.[12] Nicotin wurde unter der Bezeichnung Nicotianin erstmals 1828 durch den Chemiker Karl Ludwig Reimann und den Mediziner Christian Wilhelm Posselt im Rahmen eines Wettbewerbs der Universität Heidelberg isoliert; die Benennung wählten sie nach Jean Nicot. Die chemische Struktur wurde von Adolf Pinner und Richard Wolffenstein aufgeklärt. Im Jahr 1851 wies der belgische Chemiker Jean Servais Stas nach, dass Hippolyte Visart de Bocarmé sein Opfer Gustave Fougnies mit Nicotin vergiftet hatte.

Vorkommen

Feld mit Tabakpflanzen

Natürliches Vorkommen

Nicotin wird vor allem durch verschiedene Arten der Gattung Nicotiana (vor allem Nicotiana tabacum und Nicotiana rustica) und anderer Gattungen der Nachtschattengewächse (beispielsweise Duboisia hopwoodii und Asclepias syriaca)[13] als Sekundärmetabolit in nennenswerter Menge erzeugt. In sehr geringer Konzentration ist Nicotin auch in einigen anderen Arten der Familie und der nahe verwandten Windengewächse nachgewiesen. Außerhalb dieser Familien tritt der Stoff sporadisch in geringerer Konzentration auf, so zum Beispiel in der Gattung Erythroxylum aus der Familie der Rotholzgewächse.[14] Nicotin kommt in geringeren Mengen auch in verschiedenen Nachtschattengewächsen wie Kartoffeln, Tomaten und Auberginen vor.[15]

Nicotingehalt von Tabakprodukten und Substituten

Der Nicotingehalt des Rauchs einer Zigarette beträgt etwa 0,9 Milligramm.[16] Der Nicotinanteil in getrocknetem Tabak liegt bei 0,6 bis 2,9 Prozent der Trockenmasse.[11] Hierbei ist jedoch zu beachten, dass die Angabe der Nicotinmenge pro Zigarette nur eine äußerst eingeschränkte Informationsqualität besitzt, da der Gehalt an aufgenommenem Nicotin je nach Art der Inhalation und der Konstruktion der Zigarette variiert. Des Weiteren ist von wesentlicher Bedeutung, dass ein Raucher durch die Umstellung auf nicotinreduzierte Zigaretten nicht zwingend weniger Nicotin pro Tag zu sich nimmt, da viele Raucher an diesen stärker und länger ziehen. Die Zigarette selbst enthält wesentlich mehr Nicotin (circa 12 mg, siehe Abschnitt toxische Wirkung), das beim Rauchen jedoch größtenteils einfach verbrennt, bevor es eingeatmet wird.

Ein typisches Nicotinpflaster gibt über 16 oder 24 Stunden etwa ein Milligramm Nicotin pro Stunde ab.[17]

Das Tabakschnupfen kann zu einer täglichen Nicotinaufnahmemenge ähnlich derjenigen eines starken Rauchers führen (20 bis 60 mg).[18]

Eigenschaften

Konstitutiver Pflanzenwehrstoff

Nicotiana, so die lateinische Bezeichnung für die Gattung der Tabakpflanzen, erzeugen das Nicotin in ihren Wurzeln. Wenn die Pflanze reift, wandert der Stoff in die Blätter und erreicht dort einen Massenanteil von 0,5 bis zu 7,5 Prozent.[19] Das Nicotin dient in den Pflanzenteilen, insbesondere in den Blättern, zur Abwehr von Fressfeinden der Pflanze, sofern der Fressfeind ein Nervensystem mit nicotinischem Acetylcholinrezeptor aufweist. Nicotin und Nicotinoide sind starke Insektizide.[9]

Physikalische Eigenschaften

Reines Nicotin ist bei Zimmertemperatur eine farblose, ölige Flüssigkeit, die sich an der Luft rasch braun färbt. Es ist eine wasserlösliche Base.

Enantiomere von Nicotin
Name (S)-Nicotin (R)-Nicotin
Andere Namen L-Nicotin
(–)-Nicotin
D-Nicotin
(+)-Nicotin
Pseudonicotin
Strukturformel (S)-Nicotine Structural Formula V1.svg (R)-Nicotine Structural Formula V1.svg
CAS-Nummer 54-11-5 25162-00-9
22083-74-5 (Isomerengemisch)
EG-Nummer 686-240-2
623-834-2 (Isomerengemisch)
ECHA-Infocard 100.211.968
100.152.478 (Isomerengemisch)
PubChem 89594 157672
942 (Isomerengemisch)
Wikidata Q28086552 Q27119762
Q12144 (Isomerengemisch)

Chemische Eigenschaften

Die chemische Struktur von Nicotin, die auf zwei verbundenen Ringen aus Pyridin und Pyrrolidin basiert, wurde von Adolf Pinner und Richard Wolffenstein aufgeklärt.[20][21][22] Nicotin besitzt ein stereogenes Zentrum, es ist chiral. In der Natur kommt ausschließlich (S)-Nicotin vor. Das Enantiomer (R)-Nicotin hat keine pathophysiologische Bedeutung. Wenn in diesem Artikel der Begriff ‚Nicotin‘ gebraucht wird, ist stets (S)-Nicotin gemeint.

Biosynthese

In Tabakpflanzen wird Nicotin, ausgehend von Nicotinsäure und L-Ornithin, in folgenden Schritten synthetisiert:[23][24]

  1. 1,4-Reduktion des Pyridinrings der Nicotinsäure zu 1,4-Dihydronicotinsäure, unter Verwendung von NADPH als Reduktionsmittel.
  2. Decarboxylierung der 1,4-Dihydronicotinsäure zu 1,2-Dihydropyridin.

Parallel dazu:

  1. Bildung von Putrescin aus L-Ornithin.
  2. Synthese eines N-Methylpyrrolinium-Kations aus Putrescin.

Reaktion zum fertigen Nicotin:

1,4-Dihydronicotinsäure (ein Enamin) reagiert mit dem N-Methylpyrrolinium-Kation (einem Iminium-Ion) über ein Zwischenprodukt und anschließender Reoxidation des Dihydropyridinrings mit NADP+ zu Nicotin.

Biosynthese von Nicotin

Analytik

Die zuverlässige qualitative und quantitative Bestimmung von Nicotin in den verschiedenen Untersuchungsmaterialien gelingt nach angemessener Probenvorbereitung durch die Kopplung der Gaschromatographie oder HPLC mit der Massenspektrometrie.[25][26][27][28] Auch die Headspace-Technik findet in besonderen Fällen Verwendung.[29]

Biochemische Bedeutung und Wirkung

Wirkung von Nicotin auf dopaminerge Nerven
Wirkung von Nicotin auf Chromaffinzellen der Nebenniere

Wird Nicotin durch Tabakrauchen aufgenommen, kommt es mit einer vergleichsweise hohen Anflutgeschwindigkeit von 10 bis 20 Sekunden nach dem Inhalieren im Gehirn an.[30] Dort wirkt das Nicotin stimulierend auf die nicotinischen Acetylcholinrezeptoren. Dieser Rezeptortyp befindet sich in parasympathischen Ganglien, sympathischen Ganglien, im Nebennierenmark, Zentralnervensystem und an den motorischen Endplatten. Nicotin aktiviert parasympathische Nerven und hemmt sympathische Nerven in ihrer Aktivität. Außerdem fördert Nicotin die Ausschüttung des Hormons Adrenalin sowie der Neurotransmitter Dopamin und Serotonin. In niedrigen Mengen hat Nicotin dadurch einen stimulierenden Effekt. Nicotin beschleunigt kurzfristig und reversibel den Herzschlag und bewirkt eine Verengung v. a. der peripheren Blutgefäße;[31] dadurch kommt es zu Blutdrucksteigerung, zu leichtem Schwitzen (Abnahme des Hautwiderstandes) und infolge der Verengung der peripheren Blutgefäße zu einem Absinken der Hauttemperatur. Zu den zentralen Effekten gehören vor allem die Steigerung der psychomotorischen Leistungsfähigkeit sowie der Aufmerksamkeits- und Gedächtnisleistungen und eine Entspannung bei manchen negativen affektiven Zuständen.[32] Diese Steigerung ist allerdings nur während der Wirkdauer. Durch die Nicotinzufuhr verringert sich der Appetit. Es kommt zu einer Steigerung der Magensaftproduktion durch Ausschüttung von Histamin und zu einer erhöhten Darmtätigkeit. Außerdem ist auch eine antidiuretische Wirkung des Nicotins bekannt. Über die Wirkungen des Nicotins und die Ausschüttung von Dopamin wird eine Verstärkung des Konsumverhaltens ausgelöst,[33] die in einer Nicotinabhängigkeit resultieren kann. Entzugserscheinungen wie Reizbarkeit oder dysphorische Stimmungen können bis zu 72 Stunden andauern.[34] In gesunden Zellen aktiviert Nicotin die Proteinkinase B, die den Metabolismus, das Wachstum und das Absterben von Zellen kontrolliert. Dadurch wird die Überlebensfähigkeit der Zellen erhöht.

Nicotin befindet sich nicht auf der Dopingliste, obwohl es die Ausdauer verlängert.[35]

Rauchen gilt als Risikofaktor für Alzheimer-Patienten,[36] es gibt aber auch Studien, die eine positive Wirkung von Nicotin an und für sich in Bezug auf Entstehung und Behandlung dokumentieren.[37] Der Konsum von Nicotin ist mit einer geringeren Erkrankungswahrscheinlichkeit für Morbus Parkinson assoziiert.[38] Bei Mäusen konnte eine schädliche Wirkung auf Embryonen während der Schwangerschaft nachgewiesen werden, die sich epigenetisch in der nächsten und übernächsten Generation als Asthma manifestierte. Ob ein solcher Effekt beim Menschen besteht, ist unbekannt.[39] Nicotin und manche Metaboliten werden zur Behandlung von Morbus Parkinson,[40] und Depressionen bei Nichtrauchern untersucht.[41]

Nicotin wird im Körper zu Cotinin, Nicotin-N′-oxid, Nornicotin, Hydroxynicotin und Anbasein abgebaut.[40]

Andere Toxine, die an Acetylcholinrezeptoren wirken, sind Anatoxin A einiger Cyanobakterien, Coniin des Gefleckten Schierlings, Arecolin der Betelnüsse, Cytisin des Goldregens und Epibatidin der Baumsteigerfrösche.

Toxische Wirkung

Nicotin ist in geringen Dosen in erster Linie ein Stimulans. In mittlerer Dosierung führt es dagegen zu einer entspannenden Wirkung. Das Phänomen des dosisabhängigen Wirkungswechsels wurde als Nesbitt-Paradox beschrieben.[42] Erst in hoher Konzentration ist Nicotin sehr giftig für höhere Tiere, da es in hoher Dosierung die Ganglien des vegetativen Nervensystems blockiert. Nicotin ist der hauptsächlich für das Suchtpotenzial von Tabakgenuss verantwortliche Wirkstoff im Tabak.[43] Akute Überdosierungen sind mit Übelkeit und Erbrechen assoziiert.

In den Nieren steigt der Blutdruck unter Nicotineinwirkung, begleitet von einer geminderten glomerulären Filtrationsrate und geminderter lokaler Strömung von Blutplasma.[44] Bei Heranwachsenden kann Nicotin zu Veränderungen in der Entwicklung des Nucleus accumbens, des mittleren präfrontalen Cortex, der basolateralen Amygdala, des bed nucleus der stria terminalis und des Gyrus dentatus führen.[45]

Die Geschwindigkeit der Nicotinaufnahme über die menschliche Haut ist generell langsam und vom Lösungsmittel abhängig. Die reine Base (100 % Nicotin) wird extrem langsam mit einer Rate von 82 µg/cm² pro Stunde aufgenommen, d. h. wenn man auf 10 cm² Haut reines Nicotin aufbringt, nimmt man 0,8 mg pro Stunde auf (das entspricht etwa dem Rauchen einer halben Zigarette). Bei Applikation einer 20-prozentigen Lösung von Nicotin in einer alkoholischen Lösung auf 10 cm², liegt die Aufnahme bei 0,1 mg Nicotin pro Stunde. In verdünnter wässriger Lösung (20-prozentig) ist die Nicotinaufnahme mit 8,8 mg pro Stunde deutlich schneller.[46]

Lange Zeit galt die Annahme, bereits beim Verschlucken von 60 mg Nicotin bestünde für einen Erwachsenen Lebensgefahr. Diese Annahme beruhte auf den Forschungsergebnissen des Toxikologen und Pharmakologen Rudolf Kobert. Im Jahr 1906 veröffentlichte er das Lehrbuch der Intoxikationen, in dem er sich auf experimentelle Ergebnisse von 2 bis 4 mg stützte und daraus ableitete, dass die maximale tödliche orale Nicotindosis nicht höher als 60 mg sein könnte. Kobert führte seine Erhebungen zurück auf Selbstversuche des österreichischen Arztes Karl Damian von Schroff aus dem Jahr 1856. 2014 korrigierte der Pharmakologe Bernd Mayer von der Karl-Franzens-Universität in Graz den Wert auf über 500 mg.[47]

Im Fall von durch Kinder verschluckten Zigaretten hat eine amerikanische 5-Jahres-Studie mit 700 analysierten Fällen gezeigt, dass der Krankheitsverlauf beim Verschlucken von bis zu zwei Zigaretten immer leicht war.[48] Das Schweizerische Toxikologische Informationszentrum empfiehlt daher bei Kindern eine ärztliche Konsultation erst, wenn mehr als zwei Zigaretten verschluckt worden sind oder Vergiftungssymptome (wie Erbrechen, Hautrötungen, Blässe, Unruhe) auftreten.[49] Teilweise wird aber auch schon bei geringeren Mengen eine ärztliche Konsultation als zwingend angesehen.[50] Erbrechen sollte bei Verdacht auf Nicotinvergiftung nicht ausgelöst werden.[50]

Auf der Verpackung einer Zigarettenschachtel wird die Menge Nicotin angegeben, die beim Rauchen einer Zigarette nach der DIN/ISO-Methode inhaliert wird. Eine Zigarette enthält etwa 12 Milligramm Nicotin.

Auf Vorschlag der niederländischen Chemikalienbehörde wurde 2015 die chemikalienrechtliche Einstufung von Nicotin überprüft. Der Ausschuss für Risikobewertung (RAC) der Europäischen Chemikalienagentur (ECHA) hat am 10. September die Einstufung für Nicotin wie folgt geändert: Sowohl oral, als auch dermal und inhalativ erfolgt die Einstufung in die Kategorie Akute Toxizität 2, die Warnhinweise werden erweitert auf H300, H310 und H330 (Lebensgefahr bei Verschlucken, Hautkontakt und Einatmen).[51] Diese Einstufung des RAC muss noch von der EU-Kommission in geltendes Recht umgesetzt werden aber sie stellt mit der Veröffentlichung den Stand des Wissens dar, der von Unternehmen und Behörden berücksichtigt werden muss.

Karzinogene Wirkung

Nicotin steht nicht auf der Liste karzinogener Substanzen der Internationalen Agentur für Krebsforschung der Weltgesundheitsorganisation.[52]

Krebsbegünstigende Wirkung

In der US-Fachzeitschrift Journal of Clinical Investigation wurde berichtet, dass Nicotin im Rahmen einer Chemotherapie die Fähigkeit des Körpers blockiert, Zellen mit beschädigtem Erbmaterial zu zerstören. Derartige Zellen müssen aber gerade bei einer solchen Therapie vom Körper möglichst schnell abgebaut werden, weil sich sonst die bereits im Körper befindlichen Krebsgeschwulste weniger gehindert weitervermehren.[53][54] In gesunden Zellen aktiviert Nicotin die Proteinkinase B. Dadurch wird die Überlebensfähigkeit der Zellen erhöht, was prinzipiell günstig, aber schädlich ist, falls diese später einmal zu Krebszellen mutieren.[55] Darüber hinaus wurde berichtet, dass Nicotin die Bildung neuer Blutgefäße (Angiogenese) fördert und dadurch auch etwaige vorhandene Krebsgeschwulste besser mit Nährstoffen versorgt werden und schneller wachsen können.[56]

Abhängigkeitspotenzial

Nicotin ist hauptsächlich mitverantwortlich für die Abhängigkeit von Tabakerzeugnissen.[57] Die Suchtwirkung des Nicotins wird durch im Tabakrauch enthaltene Monoaminooxidase-Hemmer verstärkt.[58] Vergleiche von Tierstudien und Studien über menschlichen Drogenkonsum zeigen auf, dass pures Nicotin nur wenig, Tabakzigarettenrauch ein sehr hohes Suchtpotenzial aufweist.[59][60][61] Nicotin hat in Verbindung mit anderen Stoffen im Tabakrauch ein extrem hohes Abhängigkeitspotenzial und kann sehr schnell zu einem abhängigen Verhalten führen.[62] Laut einem im Jahr 2007 veröffentlichten Papier von D. Nutt u. a. liegt das Abhängigkeitspotenzial von Tabakrauch zwischen Alkohol und Kokain. Genauer gesagt, liegt das physische Abhängigkeitspotenzial bei dem von Alkohol bzw. Barbituraten und das psychische Abhängigkeitspotenzial bei dem von Kokain.[63] Ein Vergleich mit der Sucht nach Opiaten wie Heroin ist nicht angezeigt, weil diese weitaus komplizierter zu behandeln ist und die Entzugserscheinungen schwerwiegender sind. Es reichen wenige Zigaretten oder wenige Tage mit kleinem Zigarettenkonsum bis zum Eintritt der körperlichen Abhängigkeit. Das Abhängigkeitspotenzial von oral aufgenommenem Nicotin ist deutlich geringer, Pflaster haben fast kein Abhängigkeitspotenzial.[64]

Zusammenhang mit Gebrauch anderer Substanzen

In Tierversuchen kann relativ einfach festgestellt werden, ob der Konsum einer Substanz die spätere Attraktivität einer anderen Substanz erhöht. Bei Menschen, wo derartige direkte Experimente nicht möglich sind, kann jedoch in Längsschnittstudien untersucht werden, ob die Wahrscheinlichkeit des Gebrauch einer Substanz mit dem früheren Gebrauch von anderen Substanzen in Beziehung steht.

Bei Mäusen erhöhte Nicotin die Wahrscheinlichkeit von späterem Konsum von Kokain, und die Experimente ließen konkrete Schlüsse zu auf die zugrunde liegenden molekularbiologischen Veränderung im Gehirn.[65] Die biologische Prägung bei Mäusen entsprach somit den epidemiologischen Beobachtungen, dass Nicotin-Konsum beim Menschen gekoppelt ist an eine später erhöhte Wahrscheinlichkeit von Cannabis- und Kokain-Gebrauch.[66]

Bei Ratten erhöhte Cannabis die spätere Selbstverabreichung von Nicotin in Folgeexperimenten.[67] Eine Studie über den Drogengebrauch von ca. 14.500 Schülern der 12. Klasse zeigte, dass Alkoholkonsum mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit für den späteren Gebrauch von Nicotin, Cannabis und anderen illegalen Substanzen verbunden war.[68]

Verwendung

Medizinische Verwendung

Nicotin wird in der Raucherentwöhnungstherapie in Form von Pflastern, Sprays oder Kaugummis verwendet.[69] Das zugeführte Nicotin reduziert dabei die Entzugssymptome bei Rauchverzicht; viele der durch den Tabakrauch entstehenden Risiken werden durch reines Nicotin vermieden.[70]

Eine Metaanalyse von 103 randomisierten, Placebo-kontrollierten Studien ergab, dass die Rückfallwahrscheinlichkeit bei Rauchern, die ohne Hilfsmittel mit dem Tabakkonsum aufhören, bei 97 Prozent innerhalb von sechs Monaten nach dem Rauchstopp liegt. Bis 2012 ging man davon aus, dass Nicotinersatzpräparate bei korrekter Dosierung und weiterer fachlicher Anleitung die Erfolgschancen um drei Prozent steigern können.[71] Eine neuere Studie von 2012 besagt, dass die Rückfallraten bei denen, die Nicotinersatzpräparate zum Aufhören verwendet haben, genau so hoch war wie derer, die ohne Hilfsmittel aufgehört haben.[72][73]

Nicotinkaugummis haben üblicherweise einen Nicotingehalt von 2 mg für Raucher mit einem gemäßigten Tabakkonsum oder 4 mg bei starker Abhängigkeit. In Deutschland sind sie nur in Apotheken erhältlich. In der Schweiz sind alle Nicotinentwöhnungsmittel in der Abgabekategorie D, sie sind also in Apotheken und Drogerien erhältlich.

Hinsichtlich konjugierter Impfstoffe mit Nicotin zur Erzeugung von anti-Nicotin-Antikörpern gibt es entsprechende Studien.[74][75] Weiterhin werden Antagonisten des nicotinischen Acetylcholinrezeptors zur Entwöhnung untersucht.[76]

Anwendung im Pflanzenschutz

Reines Nicotin wurde früher im Pflanzenschutz als Pestizid gegen saugende oder beißende Insekten (unter anderem Blattläuse) eingesetzt. Für Pflanzen ist der Stoff gut verträglich und zudem biologisch gut abbaubar. Aufgrund der hohen Toxizität besteht für Nicotin jedoch seit den 1970er Jahren ein Anwendungsverbot. Synthetisch hergestellte Insektizide wie beispielsweise E605 wurden als Ersatz verwendet. Andere natürliche Nicotinoide und synthetische Neonicotinoide werden als Insektizide vor allem für die kommerzielle Anwendung entwickelt.[9][77]

Anwendung in der E-Zigarette

Nicotin findet ebenfalls als optionaler Bestandteil Anwendung als Genussmittel in der E-Zigarette, um die o. g. von der Tabakzigarette bekannten stimulierenden oder beruhigenden Effekte zu erzielen, gleichzeitig aber die durch Tabakrauch verursachten Gesundheitsbeeinträchtigungen zu minimieren. Am 17. Dezember 2014 wurde eine Übersichtsarbeit der „Cochrane Collaboration“ zum Thema „Raucherentwöhnung und Rauchminderung mit E-Zigaretten“ veröffentlicht. Hiernach waren rund neun Prozent der in den Jahren 2006 bis 2014 beobachteten Fälle nach sechsmonatiger Anwendung der E-Zigarette noch rauchfrei, was gegenüber herkömmlichen Nicotinersatzpräparaten signifikant ist.[78][79] Ohne Hilfsmittel, bzw. mit Nicotinpflastern oder Kaugummis, waren es nur drei Prozent.[79]

Handelsnamen

Monopräparate

Nicopatch (A), Nicorette (D, A, CH), Nicotinell (D, A, CH), Nicotrol (A), Nikaloz (A), Nikofrenon (D), NiQuitin (D, A)

Literatur

  • Helmut Schievelbein (Hrsg.): Nikotin – Pharmakologie und Toxikologie des Tabakrauches. Thieme Verlag, Stuttgart 1968, DNB 457705825.

Weblinks

Commons: Nicotin – Sammlung von Bildern
Wiktionary: Nicotin – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

  1. 1,0 1,1 1,2 1,3 1,4 1,5 Eintrag zu Nikotin in der GESTIS-Stoffdatenbank des IFA (JavaScript erforderlich).
  2. 2,0 2,1 2,2 2,3 A. C. Moffat (Hrsg.): Clarke’s Isolation and Identification of Drugs. 2. Auflage. The Pharmaceutical Press, London 1986, ISBN 0-85369-166-5, S. 807–808.
  3. Eintrag zu Nicotin. In: Römpp Online. Georg Thieme Verlag
  4. David R. Lide (Hrsg.): CRC Handbook of Chemistry and Physics. 90. Auflage. (Internet-Version: 2010), CRC Press / Taylor and Francis, Boca Raton FL, Physical Constants of Organic Compounds, S. 3-386.
  5. Eintrag zu Nicotine im Classification and Labelling Inventory der Europäischen Chemikalienagentur (ECHA) Hersteller bzw. Inverkehrbringer können die harmonisierte Einstufung und Kennzeichnung erweitern.
  6. Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (Suva): Grenzwerte – Aktuelle MAK- und BAT-Werte
  7. 7,0 7,1 7,2 7,3 Eintrag zu Nicotin in der ChemIDplus-Datenbank der United States National Library of Medicine (NLM).
  8. Doris Schwarzmann-Schafhauser: Nikotin. In: Werner E. Gerabek, Bernhard D. Haage, Gundolf Keil, Wolfgang Wegner (Hrsg.): Enzyklopädie Medizingeschichte. De Gruyter, Berlin/New York 2005, ISBN 3-11-015714-4, S. 1053.
  9. 9,0 9,1 9,2 Izuru Yamamoto, John E. Casida (Hrsg.): Nicotinoid insecticides and the nicotinic acetylcholine receptor. Springer, 1999.
  10. Eintrag zu Neonicotinoide. In: Römpp Online. Georg Thieme Verlag
  11. 11,0 11,1 Dietrich Hoffmann, Ilse Hoffmann: Chemistry and Toxicology. (PDF). In: Smoking and Tobacco Control Monograph No. 9 – Cigars: Health Effects and Trends. Kapitel 3, National Cancer Institute, 1998.
  12. H. P Rang u. a.: Rang and Dale’s Pharmacology. 6. Auflage. Elsevier, 2007, ISBN 978-0-7020-4074-0, S. 598.
  13. Robert L. Metcalf: Insect Control. In: Ullmann's Encyclopedia of Industrial Chemistry. 7. Auflage. Wiley 2007, S. 9.
  14. Eckart Eich: Ornithine-Derived Alkaloids. In: Solanaceae and Convolvulaceae: Secondary Metabolites – Biosynthesis, Chemotaxonomy, Biological and Economical Significance (A Handbook). Springer Verlag, 2008, ISBN 978-3-540-74540-2, S. 33–188.
  15. The Nicotine Content of Common Vegetables. In: The New England Journal of Medicine. Band 329, August 1993, S. 437, doi:10.1056/NEJM199308053290619.
  16. In: Der Spiegel. Band 48, Ausgaben 31–35, Spiegel-Verlag, 1994, S. 147.
  17. Alfred Lichtenschopf: Standards der Tabakentwöhnung: Konsensus der Österreichischen Gesellschaft für Pneumologie – Update 2010. Springer-Verlag, 2012, ISBN 978-3-7091-0979-3, S. 55.
  18. Zur Wirkung des Schnupftabaks, doi:10.1007/BF01865916.
  19. Tobacco (leaf tobacco). Transportation Information Service, abgerufen am 13. August 2017.
  20. A. Pinner, R. Wolffenstein: Ueber Nicotin. In: Berichte der deutschen chemischen Gesellschaft. 24, 1891, S. 61–67, doi:10.1002/cber.18910240108.
  21. A. Pinner, R. Wolffenstein: Ueber Nicotin. In: Berichte der deutschen chemischen Gesellschaft. 24, 1891, S. 1373–1377, doi:10.1002/cber.189102401242.
  22. A. Pinner, R. Wolffenstein: Ueber Nicotin. In: Berichte der deutschen chemischen Gesellschaft. 25, 1892, S. 1428–1433, doi:10.1002/cber.189202501214.
  23. Paul M. Dewick: Medicinal Natural Products: A Biosynthetic Approach. 2. Edition. WileyBlackwell, 2001, S. 313.
  24. Xuewen Wang, Jeffrey L. Bennetzen: Current status and prospects for the study of Nicotiana genomics, genetics, and nicotine biosynthesis genes. In: Molecular Genetics and Genomics. 290, 2015, S. 11, doi:10.1007/s00438-015-0989-7. PMID 25582664.
  25. M. Iwai, T. Ogawa, H. Hattori, K. Zaitsu, A. Ishii, O. Suzuki, H. Seno: Simple and rapid assay method for simultaneous quantification of urinary nicotine and cotinine using micro-extraction by packed sorbent and gas chromatography-mass spectrometry. In: Nagoya J Med Sci. 75(3-4), Aug 2013, S. 255–261. PMID 24640182
  26. K. B. Scheidweiler, D. M. Shakleya, M. A. Huestis: Simultaneous quantification of nicotine, cotinine, trans-3'-hydroxycotinine, norcotinine and mecamylamine in human urine by liquid chromatography-tandem mass spectrometry. In: Clin Chim Acta. 413(11-12), 14. Jun 2012, S. 978–984. PMID 22394455
  27. A. Lopes, N. Silva, M. R. Bronze, J. Ferreira, J. Morais: Analysis of cocaine and nicotine metabolites in wastewater by liquid chromatography-tandem mass spectrometry. Cross abuse index patterns on a major community. In: Sci Total Environ. 487, 15. Jul 2014, S. 673–680. PMID 24200094
  28. N. Liachenko, A. Boulamery, N. Simon: Nicotine and metabolites determination in human plasma by ultra performance liquid chromatography-tandem mass spectrometry: a simple approach for solving contamination problem and clinical application. In: Fundam Clin Pharmacol. 29(5), Okt 2015, S. 499–509. PMID 26118829
  29. C. Müller, F. Vetter, E. Richter, F. Bracher: Determination of caffeine, myosmine, and nicotine in chocolate by headspace solid-phase microextraction coupled with gas chromatography-tandem mass spectrometry. In: J Food Sci. 79(2), Feb 2014, S. T251–T255. PMID 24446916
  30. J. Le Houezec: Role of nicotine pharmacokinetics in nicotine addiction and nicotine replacement therapy: a review. In: Int J Tuberc Lung Dis. 7, 2003, S. 811–819. PMID 12971663.
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