Fleischfressende Pflanze aus Hamburg nach 220 Jahren im Herbarium München wiederentdeckt
Bio-News vom 20.03.2020
SNSB-Botaniker Andreas Fleischmann findet den bisher unbekannten originalen Herbarbeleg aus der Beschreibung des Mittleren Sonnentaus (Drosera intermedia) aus dem Jahr 1798 wieder – aufgrund der Übereinstimmung der getrockneten Pflanze mit der Illustration aus der Originalpublikation und daran anknüpfenden Recherchen. Seine Ergebnisse veröffentliche Fleischmann zusammen mit einem Kollegen nun in der botanischen Fachzeitschrift Taxon.
Der Mittlere Sonnentau (Drosera intermedia) ist eine weit verbreitete fleischfressende Pflanze, bekannt aus Süd- und Nordamerika und Europa sowie den angrenzenden Teilen Asiens. Die Art ist unter Botanikern bestens bekannt und untersucht. Erste Abbildungen dieser Pflanze finden sich in mittelalterlichen Kräuterbüchern schon 1583. Die Art wurde 1798 durch den deutschen Botaniker Friedrich Gottlob Hayne im „Botanischen Bilderbuch“ erstmals wissenschaftlich beschrieben.
Publikation:
Fleischmann, A. & Gonella, P.M.
Typification and authorship of Drosera intermedia (Droseraceae)
Taxon 68
DOI: 10.1002/tax.12158
Umso erstaunlicher war der Umstand, dass es bisher zu der Pflanze zwar die originale Beschreibung durch ihren Entdecker aus dem Jahre 1798 gab, jedoch keinen Originalbeleg der Pflanze selbst, also ein getrocknetes Belegexemplar, das Hayne als Grundlage für seine Beschreibung diente. In der Botanik ist es (wie auch in der Zoologie) üblich, dass jede neu entdeckte Art von den Beschreibern anhand eines sogenannten „Typus-Exemplars“ belegt wird. Allerdings wurden in frühen Artbeschreibungen zwar durchaus diese Belege verwendet, jedoch meist nicht erwähnt, die Typus-Methode existiert in der Botanik verbindlich erst seit 1935.
Seither müssen solche namensgebenden Pflanzen-Individuen (Typen) getrocknet und in botanischen Sammlungen (Herbarien) aufbewahrt werden. So werden sie der Forschung für immer zugänglich gemacht. Den wissenschaftlichen Namen erhielt Drosera intermedia 1798 von Botaniker Hayne in der oben erwähnten Publikation, als „Typus-Exemplar“ überliefert ist allerdings nur eine vom Botaniker selbst gefertigte Illustration. Von der Vorlage für die Zeichnung, der zugehörigen Pflanze und somit dem Originalbeleg für diese Art fehlte bislang jede Spur.
Auf der Suche nach dem Verbleib des Originalbelegs des Mittleren Sonnentaus (also des Typus des Artnamens Drosera intermedia) begaben sich der Botaniker Andreas Fleischmann, Experte für fleischfressende Pflanzen an der Botanischen Staatssammlung München (SNSB-BSM) und sein Kollege Paulo Gonella vom Instituto Nacional da Mata Atlântica, Santa Teresa, Brasilien auf eine detektivische Zeitreise.
Aus der Originalpublikation von Haynes geht zwar hervor, dass die Pflanze, die der Zeichnung zu Grunde liegt, in der Nähe von Hamburg aufgesammelt wurde, jedoch gilt Haynes wissenschaftliche Pflanzensammlung (sein Herbar) größtenteils als unbekannt oder verschollen. Die Recherchen der beiden Wissenschaftler umfassten sämtliche großen Herbarien in Europa, aber auch weltweit wurde nach dem Beleg gefahndet – ohne Erfolg.
Völlig überraschend lieferte schließlich ein Herbarbogen aus der Botanischen Staatssammlung München den ausschlaggebenden Hinweis: Das dort aufgeklebte Exemplar des Mittleren Sonnentaus sah der Zeichnung aus der Publikation Haynes verblüffend ähnlich – und zwar bis ins kleinste Detail! Aber wie kam dieser Herbarbeleg aus Hamburg nach München?
Der Herbarbogen stammt aus der historischen Sammlung des Botanikers Johann Christian Daniel von Schreber (1739-1810). Die Übernahme seines Herbars im Jahr 1813 gilt als die formelle Gründung des „Herbarium Regium Monacense“ (Königliches Münchner Herbar) – des heutigen „Münchner Herbars“. Allerdings sind auf dem Münchner Herbarbogen des Sonnentaus keine handschriftlichen Vermerke Haynes zu finden. Es gibt ausschließlich Etiketten und Notizen Schrebers sowie seines Zeitgenossen, des Botanikers Albrecht Wilhelm Roth, wie durch Schriftvergleich und historische Notizen herausgefunden werden konnte.
Unter anderem hatte Roth auf dem Bogen vermerkt, dass „die eingekrümmten Blätter tote Insekten“ enthalten. Historische Briefe und Publikationen belegen, dass es zwischen Schreber und Roth einen Disput über fleischfressende Pflanzen gab. Roth hatte bereits 1782 (und damit fast 100 Jahre vor Charles Darwins Grundlagenwerk zu karnivoren Pflanzen!) die These aufgestellt, dass manche Pflanzen Insekten fangen, um daraus Nährstoffe zu beziehen. Schreber lehnte diese Behauptung als „unglaublich“ ab. Aus den Publikationen ging auch hervor, dass Roth von seinem Kollegen Haynes persönlich Herbarbelege von Drosera aus Hamburg zugeschickt bekommen hatte – darunter wohl auch derjenige Beleg von Drosera intermedia, der vor 1798 gesammelt wurde. Und genau diesen schickte Roth seinem „uneinsichtigen“ Botaniker-Kollegen Schreber – vermutlich, um diesen von seinen Überlegungen zu fleischfressenden Pflanzen zu überzeugen.
„Wir haben mit unserer Detektivarbeit einen absoluten Volltreffer gelandet! Die Ähnlichkeit zwischen dem Münchner Herbarbeleg und Haynes Zeichnung ist unverkennbar. Physische Herbarbelege sind für die moderne Forschung und biologische Namensgebung unerlässlich - denn in einem Herbarbeleg, und wenn er noch so alt ist, sind nicht nur die morphologischen Merkmale, also das Aussehen der Pflanze, konserviert, sondern auch viele mikroskopische Details, Inhaltsstoffe, bis hin zum Erbgut (DNA). Deswegen haben wir den Münchner Herbarbeleg, nachweislich Originalmaterial das Hayne gesehen hat, um seine Beschreibung der Art zu erstellen, nun nachträglich zum Referenzbeleg (sogenannter Lectotypus) für die Art Drosera intermedia gemacht. Im Eppendorfer Moor in Hamburg ist der Mittlere Sonnentau inzwischen durch menschliche Einflüsse ausgestorben - der Herbarbeleg dazu hat jedoch als einmaliges Zeitdokument die letzten 220 Jahre überdauert, und dokumentiert, dass diese Pflanze früher einmal dort vorkam“, erläutert Fleischmann.
Diese Newsmeldung wurde mit Material Staatliche Naturwissenschaftliche Sammlungen Bayerns via Informationsdienst Wissenschaft erstellt.