Kurznotizen am Erbgut



Bio-News vom 07.07.2020

Wie können Stammzellen Stammzellen bleiben, wenn sie doch gleichzeitig die Informationen für die Reifung zu differenzierten Zellen bewahren müssen? Jocelyn Charlton aus dem Team von Alexander Meissner vom Max-Planck-Institut für molekulare Genetik (MPIMG) entdeckte einen neuen Mechanismus, mit dem Zellen ihre Genaktivität steuern. Er könnte sie schneller auf Signale zur Differenzierung reagieren lassen.

In unserer DNA sind zwar wie in einem „Buch des Lebens“ Anweisungen für jede Zelle und den gesamten Organismus kodiert. Damit jedes Molekül jedoch zur richtigen Zeit seinen Auftritt hat, sind Markierungen, Notizen und Hervorhebungen neben dem Text notwendig. Denn längst nicht jede Seite und jedes Kapitel ist für jeden Zelltyp jederzeit gleich wichtig.

Chemische Notizen

So sind bestimmte Teile des Erbguts nur während der Embryonalentwicklung relevant, andere werden erst nach der Spezialisierung zu Muskel-, Haut- oder Nervenzelle abgelesen. Werden die falschen Abschnitte – auch nur in der falschen Reihenfolge – abgelesen, kann es zu Entwicklungsstörungen oder Krankheiten kommen.

Ihre Notizen am Erbgut machen sich Zellen mit chemischen Modifikationen („Methylgruppen“) direkt an der DNA-Doppelhelix, genauer: an Cytosin-Dinukleotiden. Die eigentliche Erbinformation bleibt dabei unberührt. Die methylierte DNA ist lediglich vor der zellulären Maschinerie geschützt, die Informationen aus dem Genom abliest. Methylierungen an Steuersequenzen in der DNA bringen diese also zum Schweigen. Ihre Gegenspieler sind demethylierende Enzyme, die die Markierungen wieder rückgängig machen, indem sie die Methylgruppen entfernen und einen Zugriff zulassen.

Anders als zuvor angenommen, stehen diese methylierenden und demethylierenden Enzyme in einem ständigen Wettstreit miteinander – zumindest in Steuersequenzen der DNA in menschlichen embryonalen Stammzellen. Zu diesem Schluss kommt Jocelyn Charlton aus dem Team von Alexander Meissner vom Max-Planck-Institut für molekulare Genetik (MPIMG), die zusammen mit einem Team aus Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ihre Ergebnisse im Fachjournal Nature Genetics vorstellt.


Humane pluripotente Stammzellen

Publikation:


Jocelyn Charlton, Eunmi J. Jung, Alexandra L. Mattei, Nina Bailly, Jing Liao, Eric J. Martin, Pay Giesselmann, Björn Brändl, Elena K. Stamenova, Franz-Josef Müller, Evangelos Kiskinis, Andreas Gnirke, Zachary D. Smith & Alexander Meissner
TETs compete with DNMT3 activity in pluripotent cells at thousands of methylated somatic enhancers
Nature Genetics

DOI: 10.1038/s41588-020-0639-9



Notizen und Querverweise im Erbgut

Charlton untersuchte verschiedene Stammzell-Linien, denen verschiedene Kombinationen methylierender DNMT- und demethylierender TET-Enzyme fehlten. In diesen „knock-outs“ hatte sie die Gene für das jeweilige Eiweiß mit Hilfe von CRISPR-Cas9 gezielt herausgeschnitten. So entstand auch erstmals eine Zelllinie, der alle fünf Enzyme zur Modifikation von DNA-Methylierung fehlten.

Nachdem Charlton und ihre Kolleginnen und Kollegen die genetisch veränderten Zellen in der Kultur herangezogen hatte, sequenzierte sie deren Erbgut und bemerkte auffällige Unterschiede in Enhancer-Regionen: DNA-Abschnitte, die Gene mit Hilfe weiterer Faktoren aktivieren können. Je nach Zelltyp und Entwicklungsstand sind normalerweise unterschiedlichste Enhancer aktiv.

Wettbewerb der Enzyme

„Somatische Enhancer sind in pluripotenten Stammzellen nicht aktiv, sondern erst später, nach der Spezialisierung zu einem bestimmten Zelltyp“, sagt Charlton. Zwar sind diese Enhancer-Regionen in Stammzellen tatsächlich inaktiv, jedoch machen sich an ihnen offenbar permanent methylierende und demethylierende Enzyme zu schaffen. „Es gibt einiges an Methylierungs-Umsatz“, sagt Charlton.

Zunächst beobachtete das Forschungsteam, wie die DNA in Zelllinien ohne die methylierende DNMT-Enzyme zügig Methylgruppen an tausenden von Enhancern verlor. Als sie jedoch DNMTs in Zellen ohne TET-Aktivität ausschalteten, veharrte der Methylierungsgrad in denselben Regionen auf einem hohen Niveau. Damit war erwiesen, dass TET-Enzyme für die gezielte Demethylierung verantwortlich sind. Weitere Untersuchungen wiesen in denselben DNA-Abschnitten zudem chemische Abbauprodukte der Demethylierung nach.

Das Forschungsteam folgerte, dass DNMT- und TET-Enzyme an diesen Segmenten miteinander im Wettbewern stehen. „Der methylierte Zustand ist nicht so stabil und inert, wie wir immer vermutet hatten“, erklärt Charlton. „Stattdessen ist es sogar ein sehr dynamischer Prozess.“

Etwa ein Drittel aller Enhancer ist von diesem Phänomen betroffen. Die anderen zwei Drittel sind zwar demethyliert, aber epigenetisch durch Modifikationen an der Chromatin-„Verpackung“ des Erbguts deaktiviert oder sind methyliert, aber von dem Vorgang unbeeinflusst. Sobald die Stammzellen außerdem zu spezialisierten Körperzellen reifen, hört der enzymatische Wettstreit auf.

Bedeutung und Funktion noch zu untersuchen

„Unsere Ergebnisse stoßen die Tür auf für eine Menge neuer Studien“, sagt Charlton. „Sie werfen viele spannende biologische Fragen auf, etwa welchem Zweck das dynamische Methylierungsgeschehen an somatischen Enhancern erfüllt.“

Der Prozess muss die Zelle viel Energie kosten und Charlton und ihre Kolleginnen und Kollegen fragen sich, warum die Dynamik so wichtig ist. „Es könnte sich um eine Art epigenetisches poising handeln – ein Mechanismus, um regulatorische Elemente inaktiv, aber in Bereitschaft zu halten“, spekuliert die Charlton. „Damit könnte Zellen bei Bedarf bestimmte Enhancer sehr schnell an- und wieder abschalten.“

Auch wie die Enzyme zu den Erbgutabschnitten gelangen, ist unbekannt. „Etwas zieht die Enzyme dorthin, aber weder DNMTs noch TETs haben spezifische Erkennungsstrukturen, mit dem sie an DNA binden“, sagt Charlton. „Ob andere Protein oder etwa nicht-kodierende RNA-Moleküle dafür verantwortlich sind, müssen wir erst herausfinden.“

Trotz der vielen offenen Fragen war Versuchsreihe ein riesiger Erfolg, sagt Charlton. „Dieser dynamische Prozess wurde überhaupt erst sichtbar, nachdem wir uns verschiedene knock-out-Zelllinien und die Abschnitte mit wechselnden Methylzuständen angesehen hatten“, sagt die Forscherin. „Es ist spannend, einen völlig neuen Regulationsmechanismus zu entdecken, von dem wir zuvor nichts ahnten.“


Diese Newsmeldung wurde mit Material des Max-Planck-Instituts für molekulare Genetik via Informationsdienst Wissenschaft erstellt

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