Mehr als Sex: Vorschlag für ein erweitertes Evolutionskonzept



Bio-News vom 01.10.2021

Die Variabilität der Erbinformationen innerhalb einer Art ist eine zentrale Grundlage für die Ausprägung jeweils unterschiedlicher individueller Merkmale ihrer Einzelorganismen. Sie bestimmt zum Beispiel, wie sich die äußere Gestalt oder die Widerstandskraft gegenüber Krankheiten individuell entwickelt.

Zugleich erlaubt die genetische Veränderlichkeit innerhalb einer Population die evolutionäre Anpassung einer Art, zum Beispiel an Veränderungen ihrer Umwelt. Bei der sexuellen Fortpflanzung entsteht der größte Teil der genetischen Variabilität durch eine neue Zusammensetzung der genetischen Informationen. Dieser Prozess wird als Rekombination bezeichnet. Dabei werden die Erbformationen des weiblichen und des männlichen Individuums aufgeteilt und im entstehenden Nachwuchs neu kombiniert. Dieser Mechanismus sorgt für eine beinahe unendlich große Zahl an Kombinationsmöglichkeiten in den Nachkommen.

Diese Erklärung der Anpassungsfähigkeit von Arten kommt jedoch bei Lebewesen an ihre Grenzen, die sich über längere Zeit asexuell vermehren, so dass keine Rekombination stattfinden kann. Zahlreiche evolutionär alte und bestens an ihre Umwelt angepasste Organismen in marinen Lebensräumen, wie zum Beispiel Korallen oder Seegräser, müssen ihre Erbinformationen auf anderen Wegen variieren, da sie sich durch die Bildung von genetisch zunächst identischen Klonen vermehren. Genetische Variabilität erreichen sie vor allem durch sogenannte somatische Mutationen, das sind spontane genetische Veränderungen im Körpergewebe außerhalb der Keimbahn – letzteres bezeichnet bei der geschlechtlichen Fortpflanzung die Entwicklung der Zellen ausgehend von einer befruchteten Eizelle bis zum vollständigen Organismus.


Viele marine Lebewesen, zum Beispiel auch Seegräser in der Ostsee, pflanzen sich durch die Bildung von Klonen fort. Ihre Erbinformationen bestehen aus einem Mosaik ursprünglicher und neu erworbener Gene.

Publikation:


Thorsten B.H. Reusch, Iliana B. Baums, Benjamin Werner
Evolution via somatic genetic variation in modular species
Trends in Ecology & Evolution

DOI: 10.1016/j.tree.2021.08.011



In der gängigen Lehrmeinung wird die somatische genetische Variabilität allerdings noch oft als Sackgasse der Evolution angesehen, weil somatische Genveränderungen bei einigen Organismen nicht auf nachfolgende Generationen übertragen werden können. Bei komplexeren Organismen wie beispielsweise dem Menschen bewirken solche Genveränderungen oft Alterungsprozesse oder Krankheiten, zum Beispiel die Bildung von Tumoren. Forschende des Kiel Evolution Center (KEC) und des Graduiertenkollegs (GRK) Translationale Evolutionsforschung (TransEvo) an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) schlagen nun ein erweitertes Konzept der genetischen Variabilität vor, das dieser Auffassung widerspricht und somatische Mutationen stärker als bisher in den Mittelpunkt stellt.

„Dabei können vorteilhafte genetische Veränderungen nicht nur asexuell an klonale Abkömmlinge weitergegeben werden, sondern auch in die Keimbahn von Pflanzen und einfachen Wirbellosen wie Korallen gelangen“, erklärt Thorsten Reusch, Professor für Marine Ökologie am GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel und Mitglied im KEC und GRK TransEvo. In einer kürzlich im Fachmagazin Trends in Ecology & Evolution erschienenen Perspektivarbeit weist er gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen aus den USA und Großbritannien darauf hin, dass für ein genaueres Verständnis der genetischen Variabilität und ihrer Auswirkungen auf die Evolution Veränderungen im Genom von Körperzellen betrachtet werden müssen.

Dies hat auch Auswirkungen auf die Definition des Individuums: Wenn Abkömmlinge desselben Klons sich genetisch voneinander unterscheiden, können sie ebenfalls alle Merkmale biologischer Individualität erreichen. Dazu zählen zum Beispiel metabolische Unabhängigkeit, genetische Einzigartigkeit und Vererbbarkeit ihrer Eigenschaften.

Genetische Mosaike erlauben evolutionäre Anpassungen

Basierend auf umfangreichen Genomanalysen in vorangegangenen Forschungsarbeiten analysierte das Forschungsteam den Einfluss somatischer genetischer Variationen auf den Ablauf der natürlichen Selektion. Durch ihr Einwirken können sich im Laufe von Generationen bestimmte vorteilhafte genetische Variationen und die dadurch bedingten Merkmalsausprägungen eines Organismus durchsetzen, die für seine Anpassungsfähigkeit notwendig sind. Im Sinne der gängigen Evolutionstheorie wird so das Überleben der am besten an ihre Umwelt angepassten Lebewesen sichergestellt. Viele marine Lebewesen, zum Beispiel ganz unterschiedliche Organismen wie Korallen oder Seegräser, aber unter anderem auch Pilze an Land, pflanzen sich durch die Bildung von Klonen fort. Dabei zeigen sie zudem häufig verschiedene Lebensstadien mit ganz unterschiedlichen Formen und Lebensweisen. Diese Stadien oder Module entstehen zum Beispiel durch Knospung oder Abspaltung vom Ursprungsorganismus und geschehen unabhängig von der sexuellen Fortpflanzung.

Eine Schlüsselentdeckung war nun, dass genetische Drift auch innerhalb von vielzelligen Organismen stattfindet. So bezeichnen Forschende die zufällige Veränderung der Häufigkeit bestimmter Genvarianten. Da bei klonalen Organismen nur wenige somatische Zellen den Ursprung eines neuen Ablegers bilden, entsteht ein sogenannter evolutionären Flaschenhals, der in der Folge schnell zu genetischen Unterschieden unter den Abkömmlingen führt, die sich über die Zeit ansammeln. Die natürliche Selektion bewirkt dann, dass sich die Individuen mit vorteilhaften Genvariationen durchsetzen können und trotz klonaler Vermehrung eine Anpassung an geänderte Umweltbedingungen stattfindet. Möglich wird dies, weil die Erbinformationen modularer Lebewesen bildlich gesprochen aus einem Mosaik ursprünglicher und neu erworbener Gene bestehen. „Darüber hinaus fließen somatische Genveränderungen auch in den sexuellen Fortpflanzungszyklus ein und beeinflussen so auch bei vielen nicht-klonalen Lebewesen die genetische Diversität mit. Damit haben modulare Arten wie Seegräser oder Korallen insgesamt umfangreichere evolutionäre Pfade, als bisher oft angenommen wurde“, sagt Reusch.

Paradigmenwechsel in der Evolutionstheorie

Da dieses erweiterte Konzept zunehmend auch von Genomdaten bestätigt wird, schlagen Reusch und seine Kolleginnen und Kollegen vor, einen Paradigmenwechsel in der Evolutionstheorie zu vollziehen, der die Wirkung der Selektion auf modulare Arten auf mehreren Ebenen anerkennt. „Die geschlechtliche Fortpflanzung und ihr Einfluss auf die Populationsgenetik steht im Mittelpunkt der synthetischen Evolutionstheorie. Sie als alleinige Grundlage für die Entstehung der genetischen Variabilität zu betrachten, wird aber einem großen Teil des vielzelligen Lebens auf der Erde nicht gerecht“, betont Reusch. „Die somatische Evolution ist in die sexuelle Fortpflanzung eingebettet und muss besser in die populationsgenetische Theorie für eine große Zahl von klonalen Arten, darunter Pflanzen, Pilze und basale Tiere, integriert werden“, fasst Reusch zusammen.

In künftigen experimentellen Forschungsarbeiten wollen die Kieler Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nun unter anderem die möglichen Auswirkungen der somatischen genetischen Variabilität auf die Fitness verschiedener Lebewesen erforschen und dabei bestimmen, wie die jeweiligen Selektionsprozesse dabei im Detail ablaufen. Die neue Perspektivarbeit aus dem KEC zeigt damit, wie sich idealerweise Grundlagenforschung, konzeptionelle Arbeiten und die Translation in die Anwendung gegenseitig bereichern können. Insgesamt wollen die Kieler Forschenden so neben der Übertragung evolutionärer Konzepte in die Anwendung auch das theoretische und konzeptionelle Verständnis der Evolution insgesamt erweitern.




Diese Newsmeldung wurde mit Material der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel via Informationsdienst Wissenschaft erstellt

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