Speiseplan von Insekten an der Abnutzung ihres Kiefers erkennbar
Bio-News vom 17.04.2024
Zeige mir deine Kiefer, und ich sage dir, was du isst: So könnte das Motto einer Studie lauten, die an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) und der Universität Tokyo durchgeführt wurde. Die Forschenden haben darin untersucht, ob sich an der Abnutzung der Esswerkzeuge von Insekten ihre Ernährungsgewohnheiten ablesen lassen.
Bei Wirbeltieren sind derartige Analysen seit Jahrzehnten Standard. Denn aus den Ergebnissen können Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler weitreichende Erkenntnisse zu den Lebensumständen der untersuchten Arten gewinnen. Bei Wirbeltieren ist das insbesondere für Fossilfunde interessant: Der Blick auf die Zähne verrät viel über die ökologische Nische, in der das entsprechende Tier vor Millionen von Jahren gelebt hat.
Publikation:
Winkler DE, Seike H, Nagata S, Kubo MO
Mandible microwear texture analysis of crickets raised on diets of different abrasiveness reveals universality of diet-induced wear
Interface Focus 14: 20230065 (2024)
Eisen-Einlagerung statt Zahnschmelz
„Wir wollten wissen, ob sich diese Methode auch auf Insekten übertragen lässt“, erklärt Dr. Daniela Winkler vom Zoologischen Institut der CAU. „Sie haben zwar keine Zähne, aber sogenannte Mandibeln, mit denen sie ihre Nahrung zerkleinern.“ Ähnlich wie Zähne verfügen auch die Insekten-Kiefer über eine Schutzschicht, die sie gegenüber Abrieb unempfindlicher macht. Diese besteht jedoch nicht aus Zahnschmelz, sondern aus eingelagerten Metallen wie Zink oder Eisen. „Wir haben untersucht, welche Spuren bestimmte Nahrungsbestandteile trotz dieser Schutzschicht in den Mandibeln hinterlassen“, sagt Winkler.
Die Zoologin ist Expertin für Zahnanalysen – und zugleich eine Pionierin auf diesem Gebiet: Als erste Wissenschaftlerin weltweit konnte sie vor einigen Jahren nachweisen, dass sich auch die Kauwerkzeuge von Reptilien je nach Ernährung auf charakteristische Weise abnutzen. Ihre Ergebnisse erlauben beispielsweise völlig neue Einblicke in die Lebensweise von Dinosauriern. Auch bei den Insekten beschritt sie nun mit ihren Kolleginnen und Kollegen aus Japan Neuland. „Wir haben Experimente mit Grillen durchgeführt, die wir unterschiedlich gefüttert haben“, sagt sie. „Alle Tiere erhielten zu Pellets gepresste Bestandteile der Saat-Luzerne. Wir mischten dieser Grundnahrung aber unterschiedliche Bestandteile bei, darunter verschieden groben Quarzsand oder Vulkanasche.“
Mandibeln verschleißen ganz ähnlich wie Meerschweinchen-Zähne
Insgesamt lief das Experiment über einen Monat. In dieser Zeit fertigten die Forschenden mehrfach mit einem speziellen Mikroskop dreidimensionale Oberflächenscans von den Mandibeln an. Mit Hilfe einer computergestützten automatisierten Auswertungsmethode vermaßen sie dann die Topografie der Mandibel-Oberfläche – vereinfacht gesagt: ihre Rauheit. Dazu erfassten sie insgesamt mehr als 40 Parameter, darunter die durchschnittliche Tiefe der Kratzer und die Komplexität der Abnutzungsmuster. Ein Ergebnis hat Winkler dabei selbst überrascht: „Wir haben früher auf ähnliche Weise die Abnutzung von Meerschweinchen-Zähnen untersucht – und zwar ebenfalls mit Hilfe von Futterpellets, denen wir Quarzsand oder Asche beigemischt hatten, um die Aufnahme solcher Partikel im natürlichen Lebensraum zu simulieren. Denn das kommt bei Pflanzenfressern tatsächlich häufig vor“, sagt sie. „Die Mandibeln der Grillen verschleißen auf fast identische Weise, obwohl die Tiere erheblich kleiner sind und ihre Esswerkzeuge einen ganz anderen Aufbau haben.“
Verlässlicher Einblick in den Speiseplan der Grillen
Tatsächlich ließ sich aus den Parametern schon einige Tage nach Start des Experiments mit großer Sicherheit ablesen, auf welche Weise die Tiere gefüttert worden waren. Die Spuren auf den Mandibeln geben also offensichtlich einen verlässlichen Einblick in den Speiseplan der Grillen. Für fossile Insekten-Funde eignet sich das Verfahren allerdings wohl nicht. Denn dazu müssen die Mandibeln in dreidimensionaler Form erhalten sein; das ist aber nur selten der Fall. Auch Insekten-Einschlüsse in Bernstein lassen sich auf diese Weise nicht analysieren, da die Kiefer dort von einer Harzschicht bedeckt sind.
Dennoch könnten die Ergebnisse in der Fachwelt auf großes Interesse stoßen: Weltweit verfügen viele naturkundliche Museen über große Insektensammlungen. Die Grillen, Käfer, Wanzen und Libellen darin sind zum Teil mehrere hundert Jahre alt. Ihre Mandibeln dokumentieren, wie sich ihre ökologische Nische seit damals verändert hat – durch menschliche Eingriffe, Umweltzerstörung, Klimawandel oder auch die Einwanderung neuer Pflanzenarten. „Zudem lässt sich an den Spuren ablesen, wie schnell sich die Insekten auf diesen Wandel einstellten“, erklärt Winkler: „Ob sie sich zum Beispiel direkt neue Nahrungsquellen erschlossen, wenn ihre Lieblingspflanze seltener wurde – oder ob sie das erst taten, wenn sie anders nicht mehr überleben konnten.“
Diese Newsmeldung wurde mit Material der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel via Informationsdienst Wissenschaft erstellt.