Chorea minor


Klassifikation nach ICD-10
I02.0 Rheumatische Chorea mit Herzbeteiligung
I02.9 Rheumatische Chorea ohne Herzbeteiligung
ICD-10 online (WHO-Version 2019)

Die Chorea minor (Sydenham) oder Veitstanz ist eine mit Hyperkinesien (unkontrollierbaren blitzartig ausfahrenden Bewegungen) der Hände, des Schlundes und der Gesichtsmuskulatur und gleichzeitiger Muskelhypotonie (Muskelschwäche) und Hyporeflexie (Abschwächung der Reflexe) einhergehende neurologische Erkrankung.

Sie ist eine mögliche Manifestationsform des rheumatischen Fiebers (siehe Jones-Kriterien) → Daher auch die Synonyme Chorea rheumatica und Chorea infectiosa.

Sie tritt als Zweiterkrankung einige Wochen bis Monate nach einer abgelaufenen Infektion mit β-hämolysierenden Streptokokken der Gruppe A, meistens nach einer durchgemachten Mandelentzündung (Angina tonsillaris) bzw. Rachenentzündung (Pharyngitis), eines Scharlachs oder einem Erysipel auf.

Es sind vor allem Mädchen im Alter von sechs bis 13 Jahren betroffen. In sehr seltenen Fällen können auch Erwachsene bis 40 Jahre betroffen sein.

Thomas Sydenham

Historisches

Der englische Arzt Thomas Sydenham (1624–1689) gilt als der Erstbeschreiber dieser Erkrankung. Circa 200 Jahre später entdeckte der New Yorker Arzt George Huntington (1850–1916) eine nicht-infektiöse vererbbare und überwiegend bei älteren Menschen über 50 Jahre auftretende Variante der Chorea, und grenzte sie als Chorea major (Huntington) ab.

Ursache

Es handelt sich um eine Autoimmunerkrankung, bei der Antikörper – die ursprünglich gegen die Streptokokken gebildet wurden – kreuzreagieren und plötzlich auch bestimmte körpereigene strukturähnliche Zellen derjenigen Basalganglien im Gehirn angreifen, die für die hemmende Dosierung und Feinabstimmung von Bewegungen verantwortlich sind. Im Wesentlichen wird das Striatum geschädigt, wobei das Striatum jedoch nicht irreversibel zerstört wird, wie dies bei der Chorea Huntington der Fall ist.

Derselbe Mechanismus liegt übrigens auch der rheumatischen Endokarditis (ebenfalls eine mögliche Manifestationsform des rheumatischen Fiebers) zugrunde, nur mit dem Unterschied dass sich in diesem Falle die Antikörper nicht gegen die Basalganglienzellen sondern gegen Troponin und Tropomyosin, also gegen Bestandteile der Herzmuskulatur richten.

In der Folge kommt es dann zu Entzündungsreaktionen mit Einschränkung der Funktionsfähigkeit dieser bewegungsinhibierenden Basalganglien. Die bewegungsfördernden Basalganglien (Substantia nigra und Pallidum) sind nun zum Teil enthemmt und es kommt zu den typischen überschießenden Bewegungsmustern.

Das klinische Erscheinungsbild ist logischerweise umso ausgeprägter, je mehr Zellen geschädigt werden und je größer die daraus resultierende Entzündung geworden ist.

Bei der Parkinson-Krankheit gehen dagegen die Zellen eines bewegungsfördernden Basalganglions (Substantia nigra) zugrunde, was zu der Trias aus Akinese (Bewegungsarmut), Rigor (Muskelsteifheit) und Ruhe-Tremor (Muskelzittern) gepaart mit einer Hypertonie und Hyperreflexie der Muskulatur führt; also zu Symptomen, die genau entgegengesetzt zu denen der Chorea sind.

Chorea und Parkinson-Krankheit beruhen also beide auf einer Schädigung bzw. Zerstörung von jeweils einem der beiden antagonisierenden Basalganglien. Deren komplex aufeinander abgestimmtes Zusammenspiel aus gegenseitiger Hemmung und Verstärkung ist daraufhin gestört und es kommt dann entweder zu einem Zuviel oder zu einem Zuwenig an Bewegungen. Die beiden Erkrankungen sind sozusagen die zwei Seiten ein und derselben Medaille.

Definition des Begriffes Chorea

Choreatische Bewegungsstörungen gehören zur großen Gruppe der extrapyramidalen Hyperkinesien, zu denen u. a. auch der Tremor, die Dystonien, der Ballismus oder auch die Tics beim Tourette-Syndrom gehören. Alle extrapyramidalen Hyperkinesien beruhen auf einer Fehlfunktion jeweils bestimmter Anteile der Basalganglien.

Die Chorea (griechisch für Tanz) ist keine Krankheit, sondern ein rein deskriptiver Begriff für ein Symptom, dem viele ganz unterschiedliche Ursachen zugrunde liegen können. Das Endergebnis ist aber immer eine Funktionsstörung des Striatum, welche dann zu ganz charakteristischen Bewegungsstörungen führt. So gibt es:

  • vererbte, degenerative Chorea: Chorea major (Huntington)
  • postinfektiös-autoimmun ausgelöste Chorea: Chorea minor (Sydenham)
  • bei einer Schwangerschaft auftretende Chorea: Chorea gravidarum
  • bei Kollagenosen auftretende Chorea: z. B. Chorea beim systemischen Lupus Erythematodes (SLE)
  • senile Chorea
  • durch Medikamente ausgelöste Chorea (z. B. durch L-Dopa-Überdosierung bei der Therapie des Morbus Parkinson)
  • Chorea beim Morbus Wilson

Symptome

Die neurologischen Symptome ähneln denen der Erbkrankheit Chorea major (Huntington).

  • Hyperkinesien (= kurzdauernde unkontrollierbare + unkoordinierte blitzartige Muskelzuckungen) der distalen (= körperfernen) Extremitäten. (v.a. der Hände → schnelle ausfahrenden Bewegungen):
    • die Kinder werden zunehmend bei Bewegungen der Hände auffällig, bei der eine präzise Koordination antagonisierender Muskelgruppen notwendig ist
      • in der Schule fallen sie durch ein sich verschlechterndes Schriftbild auf. Zu Beginn kann dies durch Lehrer als eine Art kindliche Trotzreaktion oder Unlust missinterpretiert werden.
      • zuhause fallen sie durch ungewöhnlich häufige „Ungeschicklichkeiten“ (Clumsiness) auf, indem sie öfter als früher Gegenstände fallen lassen, auf einmal nicht mehr richtig mit dem Besteck umgehen können, etc.
    • der »Gesichtsmuskulatur« (Grimassieren)
    • der »Schlundmuskulatur« (Schwierigkeiten beim Sprechen und Schlucken durch unkoordinierte Muskelzuckungen → Die Patienten haben dann eine gepresst klingende, abgehackte Sprechweise (Dysarthrie). Sie können sich öfter verschlucken (Dysphagie) mit der Gefahr einer Aspirationspneumonie.)
    • und der »Zungenmuskulatur« („Chamäleonzunge“ oder „Fliegenfängerzunge“ → unwillkürliches Ausstrecken und schnelles Zurückziehen der Zunge).

Ähnliches geschieht bei einer anderen Erkrankung dem sog. Ballismus, allerdings sind hier grobe ausfahrende wurmförmige Bewegungen der proximalen (= körpernahen) Muskelgruppen, d. h. der Schulter- bzw. Oberarmmuskulatur typisch. Der Hauptunterschied besteht darin, dass nun nicht das Striatum, sondern das zweite wichtige bewegungshemmende Basalganglion (der Nucleus subthalamicus) ausfällt. Offenbar teilen sich das Striatum und der Ncl. subthalamicus die Muskeln im Sinne von körpernah und körperfern auf. Dies hat dann unterschiedliche Krankheitsbilder zur Folge, was bei der Diagnostik natürlich sehr hilfreich ist.

Die Bewegungen nehmen bei emotionaler Belastung bzw. in Stresssituationen zu und lassen bei Entspannung wieder nach. Im Schlaf sind sie gar nicht vorhanden.
Sie werden von den kleinen Patienten als sehr belastend und peinlich empfunden, weswegen sie versuchen, diese so gut wie möglich zu kaschieren. Dies gelingt ihnen auch zum Teil, indem sie die Hyperkinesien in normal wirkende willkürliche Bewegungen mit einbauen (z. B. indem sie sich durch das Haar streichen, sich mit der Zunge die Lippen befeuchten, oder auch durch tänzelnde Bewegungen der Hände und durch ein Lächeln).
  • Muskelhypotonie (= Schwäche der Muskulatur) und Hyporeflexie. (abgeschwächte Muskelreflexe):
Gleichzeitig besteht auch eine Muskelschwäche mit Hyporeflexie die man durch bestimmte klinische Untersuchungsmethoden (Kraft- und Reflexprüfungen) diagnostizieren kann. In schweren Verläufen führt dies dazu, dass ein Stehen oder Gehen unmöglich wird.
  • Psychische Störungen:
    • wie Aufmerksamkeitsstörungen, Müdigkeit bis hin zu Apathie. in der Schule,
    • aber auch Unruhe. und Reizbarkeit.
    • Auch Psychosen werden beschrieben, diese sind aber sehr selten.

»Veitstanz« (Chorea Sancti Viti)

St. Vitus – Nothelfer bei Krämpfen, Epilepsie, Tollwut, Veitstanz, Bettnässen

Im Mittelalter hielt man Patienten mit Chorea (griechisch für Tanz) aufgrund der Symptomatik vermutlich für „von der Tanzwut besessen“. Da man zur damaligen Zeit keine medizinische Erklärung für dieses „seltsame Verhalten“ der Erkrankten hatte, glaubte man wohl an eine Besessenheit mit einem bösen Geist.

In der Tat hätte man den Eindruck gewinnen können, jemand würde für wenige Sekunden (bis Minuten) die Gewalt über die Muskeln des Betroffenen übernehmen und mit Ihnen „nach belieben Schabernack“ treiben. Die Patienten könnten sich sozusagen „ferngesteuert“ gefühlt haben.

Der heilige Veit (St. Vitus) heilte im 4. Jahrhundert den Sohn des römischen Kaisers Diokletian von solch einer Besessenheit. Da ihn Diokletian danach trotzdem hinrichten ließ (weil er nicht dem christlichen Glauben abschwören wollte) und er vorher auch noch viele andere Wunder wirkte, wurde er später heiliggesprochen. Seitdem gilt er als ein Schutzheiliger der Katholiken – genauer gesagt ist er einer der sogenannten Vierzehn Nothelfer – der auch heute noch v.a. bei neurologischen Erkrankungen wie Epilepsie, Krämpfen oder eben auch Veitstanz angerufen wird. Vor allem im Mittelalter haben die Betroffenen zu ihm gebetet und sind zur Aufbewahrungsstätte seiner Gebeine gepilgert, um Erlösung zu finden.

Aus diesem Grunde waren für die Chorea auch noch die Namen »Veitstanz« und »chorea sancti viti« (= Tanz des heiligen Vitus) gebräuchlich.

Diagnostik

die Diagnose lässt sich anhand folgender Merkmale stellen:

  • das klinische Bild. (o.g. chorea-typischen Bewegungsstörungen mit Dysdiadochokinese)
  • die typische Anamnese. (Kinder im schulpflichtigen Alter, zumeist jungen Mädchen mit zuvor durchgemachter Angina oder Endokarditis bzw. rheumatischem Fieber)
  • erhöhte Entzündungsparameter im Blut: Blutsenkungsgeschwindigkeit (BSG) ↑, CRP ↑, Leukozyten
  • ASL-Titer (Anti-Streptolysin-Antikörper) ↑ (Dies ist ein Antikörper gegen ein Streptokokken-Bestandteil, welches man bei den Patienten findet. Es gibt aber noch einige andere!)
  • das PET. (Positronen-Emissions-Tomogramm) zeigt im Striatum einen erhöhten Zuckerstoffwechsel.
  • andere Symptome eines rheumatischen Fiebers. (Jones-Kriterien):
Da die Chorea minor lediglich eine Ausprägungsform des rheumatischen Fiebers ist, muss man auch nach den eventuell vorhandenen weiteren Zeichen des rheumatischen Geschehens suchen. Prinzipiell können alle anderen der Jones-Kriterien auch vorhanden sein!

Therapie

Die Therapie ist die gleiche wie beim rheumatischen Fieber:

  • Akuttherapie:
    • Bettruhe
    • hochdosierte Penicillin-Gabe über 10 Tage um die übrig gebliebenen Streptokokken zu beseitigen, die den Autoimmunprozess weiter unterhalten.
Das altbewährte Penicillin ist bei Streptokokken der Gruppe A völlig ausreichend, da bislang keine Resistenzen aufgetreten sind. Bei Penicillinunverträglichkeiten (Allergien,…) kann man auf Erythromycin ausweichen.
  • Entzündungshemmung:
    • Cortison über einige Wochen zur Bekämpfung der bedingt durch die Antikörperreaktion ablaufenden Entzündungsreaktionen im Hirngewebe. (antirheumatische Therapie)
    • Salicylate, wie z. B. Aspirin über 6–12 Wochen
Dies ist der entscheidende Schritt der Therapie. Erst unter der antientzündlichen Therapie gehen auch die choreatischen Symptome langsam zurück.
  • Therapie der psychischen Symptome. soweit notwendig
    • durch Schaffung einer ruhigen Umgebung,
    • mit Beruhigungsmitteln (= Tranquilizern), wie z. B. Diazepam (→ Da die Symptome unter Erregung zunehmen, ist eine beruhigende Medikation manchmal sehr hilfreich!),
    • oder im sehr seltenen Falle einer Psychose mit Neuroleptika, wie z. B. Haloperidol.

Prophylaxe

  • Rezidivprophylaxe:
    • Benzathin-Penicillin G. (intramuskulär injiziertes Depotpenicillin mit einer Halbwertszeit von 30 Tagen)
Dieses niedriger dosierte Monats-Penicillin wird in der Regel über einen Zeitraum von 5 Jahren gegeben, um einen Rückfall möglichst zu vermeiden. Bei Beteiligung der Herzklappen (rheumatische Endokarditis) auch länger, zumeist bis zum Erwachsenenalter.
Die Nutzen der Prophylaxe ist unbestreitbar, da es ohne Penicillinprophylaxe in bis zu 50 % der Fälle zu Rezidiven kommen kann, die Dauer der Behandlung ist jedoch nicht ganz unumstritten. Die Ansichten reichen dabei von der Gabe nur in besonderen Gefährdungssituationen, über die Gabe in einem Zeitraum von 5 Jahren bis hin zu einer lebenslangen Penicillin-Prophylaxe.
  • Beseitigung/Sanierung des Ursprungs der Streptokokkeninfektion:
Ganz entscheidend ist, dass man eine eventuell vorhandenen chronischen Streptokokkeninfektionsquelle (z. B. kariöse Zähne, vergrößerte Mandeln) findet und diese auch beseitigt (Zahnversorgung, Tonsillektomie), da es sonst zu einem erneuten Rezidiv kommen kann. Sie muss sich dann aber nicht erneut als Chorea manifestieren, sondern sie könnte sich z. B. auch als eine sehr gefährliche rheumatische Endokarditis (Herzklappenentzündung) oder rheumatische Polyarthritis zeigen. (siehe Jones-Kriterien)

Prognose

Die Therapie und v. a. die Prognose von Chorea minor bzw. major unterscheiden sich ganz erheblich voneinander.

  • Die Chorea Huntington ist derzeit unheilbar. Die Symptome nehmen fortwährend zu, die Patienten verlieren immer mehr die Kontrolle über ihre Muskulatur und sie werden bettlägerig. Die Krankheit endet nach Jahren immer mit dem Tod der Patienten – oft bedingt durch eine Ateminsuffizienz (Atemlähmung) oder eine schwere Aspirationspneumonie.
  • Im Gegensatz dazu heilt die Chorea minor bei entsprechender Therapie (s. o.) nach ca. acht bis zwölf Wochen in 90 % der Fälle völlig aus; spätere Rückfälle sind aber trotz Prophylaxe möglich.

Vergleich Chorea minor (Sydenham) – Chorea major (Huntington)

Chorea minor (Sydenham) Chorea major (Huntington)
Alter Kinder im Alter von 3–13 Jahren
selten bis 40 Jahre
3–75 Jahre, meist ab 30 Jahren
Geschlecht überwiegend weiblich
Ursache Autoimmunerkrankung nach abgelaufener Streptokokkeninfektion Erbkrankheit
autosomal-dominant (kurzer Arm des Chromosom 4)
Pathogenese Kreuzreagierende Antikörper gegen Proteine der Basalganglien (v.a. Striatum) Ablagerung von unphysiologischen Eiweißen in die Basalganglien (v.a. Striatum)
Therapie Behandlung der Ursache (Infektion) mit
Penicillin G über 10 Tage
Rezidivprophylaxe
keine ursächliche Behandlung möglich
Neuroleptika (Tiaprid) gegen die Hyperkinesien
genetische Beratung, da 50 % der Kinder erkranken werden
Komplikationen in 10 % der Fälle bleiben Reststörungen nahezu immer Demenz in den späteren Stadien der Erkrankung. (kann beim seltenen späten Beginn der Erkrankung (> 50) fehlen)
Prognose reversibel
heilt in 90 % der Fälle folgenlos ab
irreversibel
chronisch-fortschreitend, endet nach i. d. R. 12–15 Jahren immer tödlich

Siehe auch