Nervenleitgeschwindigkeit


Die Nervenleitgeschwindigkeit (NLG) gibt an, wie schnell elektrische Impulse entlang einer Nervenfaser übertragen werden. Dazu wird – wie in der Physik definiert – der Quotient aus der Ortsdifferenz und der Zeitdifferenz gebildet. [1].

Physikalische Grundlagen

Physikalisch gesehen besteht eine Nervenfaser aus einer isolierenden Hülle (Nervenfasermembran) und einem leitenden Inhalt (Salzlösung). Eine angelegte Spannung wird daher – wie auch bei jedem elektrischen Kabel – nach elektrodynamischen Gesetzen fortgeleitet. Da aber die Nervenmembran ein nur unvollständiger Isolator ist und der Elektrolyt einen relativ hohen elektrischen Widerstand verglichen beispielsweise mit einer Kupferader hat, kommt es entlang der Nervenfaser sehr rasch zu einem Spannungsabfall. Daher können derartige Nervenimpulse nur über eine sehr kurze Strecke übertragen werden. Die Fortleitung von Aktionspotentialen entlang eines Nervs erfolgt deshalb zusätzlich durch Veränderung der Ionenpermeabilität über spannungsabhängige Ionenkanäle der Nervenfasermembran. Dies ist ein relativ langsamer, aktiver, d.h. Stoffwechselenergie verbrauchender Vorgang. Im Gegensatz zu einem metallischen Leiter, der Impulse mit der Geschwindigkeit elektrischer Felder nahe der Lichtgeschwindigkeit überträgt, liegen die Geschwindigkeiten typischer Säugernerven zwischen 1–100 m/s. Auf Grund der beteiligten molekularen Strukturen besteht auch eine deutliche Temperaturabhängigkeit. Innerhalb eines physiologischen Bereichs nimmt die Nervenleitgeschwindigkeit um 1–2 m/s pro Grad Celsius zu.

Dicke der Axone und Nervenleitgeschwindigkeit

→ Hauptartikel: Erregungsleitung

Dicke Axone übertragen mit höheren Nervenleitgeschwindigkeiten als dünne aufgrund des günstigeren Verhältnisses zwischen Membranfläche ($ 2\pi r*d $) und leitendem Volumen ($ \pi r^{2}*d $). Niedere Tiere verfügen über dickere Axone, höhere Tiere sowie der Mensch haben Nervenfasern (zum Beispiel die menschlichen Arm- und Beinnerven zu den großen Muskeln) mit einer zusätzlichen passiven Isolation durch Myelinzellen, die sich um das Axon wickeln (sog. Myelinscheiden). Hierdurch kann eine wesentliche Steigerung der Nervenleitgeschwindigkeiten erreicht werden. Lediglich an den freiliegenden Nervenfasermembranteilen zwischen den isolierenden Myelinscheiden (Ranviersche Schnürringe) muss wie in einer Verstärkerkette das Signal aktiv verstärkt werden (saltatorische Erregungsleitung).

Anders ausgedrückt: Während in Nervenfasern ohne Myelinscheide die Signalleitung in Form einer wandernden "Welle" von Ionenflüssen durch die Zellmembran fortschreitet, springt diese in den höher entwickelten Nervenfasern mit Myelinscheide von einer Lücke dieser Hülle zur nächsten. Dadurch kann die Nervenleitgeschwindigkeit etwa um den Faktor 20 gegenüber einem unmyelinisierten Axon gleicher Dicke auf bis zu 180 m/s erhöht werden.

Diese Prinzipien der Nervenleitung gelten für alle Nerven im gesamten Tierreich, unabhängig davon, ob sie im zentralen (Gehirn) oder peripheren Nervensystem (zum Beispiel in den Armen) verlaufen, ob sie der motorischen (Aktivierung von Muskeln) oder der sensiblen Nervenleitung (Rückmeldung von Empfindungen) dienen.

Nervenleitung im zentralen Nervensystem

Auch im zentralen Nervensystem – Rückenmark und Gehirn – finden sich die gleichen Prinzipien. Vor allem lange Bahnen sind myelinsiert (hier wird das Myelin jedoch von Oligondendrozyten und nicht von Schwannschen Zellen gebildet). Die Messung der Leitgeschwindigkeiten erfolgt mit evozierten Potentialen und Magnetstimulation.

Hirnfunktion

Im Hirn der höheren Tiere sind alle Axone myelinisiert. Die Ausfälle der Nervenkoordination, die sich bei einer krankhaften Degeneration der Myelinscheiden (Multiple Sklerose) zeigen, sind Beweis dafür, dass die höhere Nervenleitgeschwindigkeit der myelinisierten Axone wesentliche Voraussetzung für die Synchronisation von Nervenzellengruppen über größere Entfernungen ist. Insofern ist die Myelinisierung auch eine Voraussetzung für höhere kognitive Prozesse des Gehirns. Es ist jedoch ein verbreiteter Trugschluss, dass kognitive Prozesse (d.h. das Lernen) zu einer Erhöhung der Nervenleitgeschwindigkeit führen: Weder werden durch Lernprozesse die Myelinscheiden verändert, noch hätte deren Veränderung einen direkten Einfluss auf die Datenverarbeitungsgeschwindigkeit des Hirns [Quelle fehlt]. Neurophysiologische Veränderungen des Hirns während kognitiver Prozesse spielen sich vielmehr an den Synapsen ab, die den Signalübergang von einer Nervenzelle zur nächsten vermitteln. Diese Synapsen wiederum sind frei von Myelin.

Messung

Die Messung der Nervenleitgeschwindigkeiten ist eine neurophysiologische Standarduntersuchung der Neurologie. Hierbei wird aber nicht die Nervenleitgeschwindigkeit einer einzelnen Nervenfaser gemessen, sondern die Summe der Antworten aller Fasern eines Nervs. Definitionsgemäß wird dabei die schnellste erkennbare Antwort zur Bestimmung der Geschwindigkeit benutzt. In Wirklichkeit leiten die Fasern eines Nerven unterschiedlich schnell, was bei entsprechender Analyse weitere diagnostische Informationen geben kann.

Bild 1: Messen der motorischen Überleitung beim Menschen, Achtung: nur Demonstration, kann so wie dargestellt nicht funktionieren, es wird der N. medianus in der Ellenbeuge gereizt und von einem vom N. ulnaris versorgten Muskel abgeleitet (Kleinfingerballen)
Bild 2
Bild 3: Ablesen der NLG auf einem NLG-Messgerät

Die Messung erfolgt mittels elektrischer Impulseinleitung/Auslesung, gemessen entlang eines Nerves.

Ein Sonderfall ist die Messung der motorischen Überleitungszeit. Da die messbaren Spannungsänderungen eines Nerven an der Hautoberfläche sehr klein und damit fehleranfällig sind, behilft man sich bei motorischen Nerven damit, zwar den Nerven zu reizen, aber die Antwort des Muskels abzuleiten. Da Muskeln mit vielen Muskelfasern eine sehr viel höhere messbare Spannung (Faktor 1:1000) liefern, ist dies leicht möglich. Allerdings geht in die Zeit zwischen Reiz und Muskelantwort (Latenz) nicht nur die Nervenleitzeit ein, sondern auch die Übertragungszeit auf den Muskel über die motorische Endplatte (ca. 0,8 ms) und die Leitungszeit auf der Muskelfasermembran (einige m/s). Die Gesamtzeit wird motorische Überleitungszeit genannt. Durch Reiz des Nerven an zwei verschiedenen Orten bei konstanter Ableitposition über dem Muskel kann aber dann eine 'echte' Nervenleitgeschwindigkeit durch Differenzbildung bestimmt werden.

Bild 2: Messung der motorischen Überleitungszeit. Stimulation des Nervus medianus mit 2 Polen einer Goldkontakt-Elektrode an der Hautoberfläche am Handgelenk unmittelbar körpernah des Karpaltunnels; gemessen wird mit einer über dem Musculus abductor pollicis brevis (Daumenballenmuskel) aufgeklebten Elektrode und einer Referenzelektrode am Daumen. Eingestellt werden für den Reiz beispielsweise ein Rechteckpuls mit einer Impulsdauer von 200 µs und eine Stromstärke zwischen etwa 3 und 20 mA, je nach Ort der Stimulation und Dicke und Beschaffenheit des Gewebes.

Bild 3: Dargestellt sind die Ergebnisse von 2 Reizen. Die obere Spur beginnt links zum Zeitpunkt des Reizes (Beginn des Rechteckimpulses). Von dort wandert der Strahl mit der eingestellten Schreibgeschwindigkeit von zum Beispiel 5 ms/Teilstrich nach rechts. Bei Teilstrich 1 (entsprechend einer Latenz von 5 ms) erkennt man den Beginn der elektrischen Muskelantwort als einen Ausschlag nach unten (entgegen der Konvention dargestellt, standardmäßig werden negative Spannungen in der Elektrophysiologie nach oben dargestellt). Dies ist mit dem linken Marker markiert. In der unteren Spur erkennt man einen ähnlichen Ausschlag, aber etwas später (rechter Marker). Offenbar war die Reizelektrode weiter entfernt vom Muskel auf den Nerv gesetzt worden. Die Zeitdifferenz zwischen den Markern ergibt die Nervenleitungszeit. Die Ortsdifferenz der Reizstellen wird zum Beispiel mit einem Bandmaß ausgemessen. Der Quotient aus Orts- und Zeitdifferenz ergibt dann die Nervenleitgeschwindigkeit.

Indikation

Eine häufige Indikation zur Messung der Nervenleitgeschwindigkeiten ist der Verdacht auf eine Polyneuropathie. Bei dieser Erkrankung kommt es zu einer Störung der Isolation des Nerven (Myelin) und/oder des Nervenfortsatzes (Axons). Als Folge der Schädigung ist eine geminderte Nervenleitgeschwindigkeit messbar. Beim Karpaltunnel-Syndrom schädigt der lokale Druck am Handgelenk die Isolation des Medianusnerven, so dass die distale motorische Latenz deutlich verlängert ist.

Siehe auch Elektroneurographie (ENG)

Weblinks

Referenzen