Neuro-Enhancement


Unter pharmakologischem Neuro-Enhancement versteht man die Einnahme von psychoaktiven Substanzen aller Art mit dem Ziel der geistigen Leistungssteigerung. Hirndoping, ein oft synonym verwendeter, jedoch nicht notwendigerweise deckungsgleicher Begriff, meint die missbräuchliche Einnahme solcher Substanzen, die verschreibungspflichtig oder illegal sind.

Leistungssteigernde Substanzen

Psychostimulanzien

Psychostimulanzien sind Amphetamine und Amphetamin-ähnliche Substanzen, zum Beispiel Methylphenidat (MPH). MPH ist im Präparat Ritalin enthalten, das zur Behandlung von Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen (ADHS) eingesetzt wird. Amphetamine sind auch als Droge Speed bekannt.

MPH und Amphetamine blockieren präsynaptische Noradrenalin- und Dopamintransporter. Die verhinderte Wiederaufnahme (re-uptake) in die Präsynapse steigert die monoaminerge Neurotransmission. Amphetamine stimulieren zusätzlich die vesikuläre Dopamin-Freisetzung, was zu einer erhöhten Konzentration von Dopamin im synaptischen Spalt führt und damit die Dopaminaktivität steigert.

Modafinil

Modafinil ist als extremer „Wachmacher“ bekannt und wird zur Behandlung von Schlafstörungen wie der Narkolepsie und dem chronischen Schichtarbeitersyndrom eingesetzt. Zusätzlich befindet sich der Wirkstoff in der Testphase zur Behandlung von ADHS. Das Wirkprofil ist nicht vollständig aufgeklärt. Man geht von einer Wiederaufnahmehemmung von Dopamin und Noradrenalin in die Präsynapse aus, sowie einer Modulation von GABA-ergen und glutamatergen Neurotransmitter-Systemen. Aufgrund dieser Eigenschaften wurde der Wirkstoff zunächst in das Betäubungsmittelgesetz aufgenommen. Das Missbrauchspotential der Substanz wird jedoch eher als gering eingestuft, weshalb Modafinil 2008 aus dem Betäubungsmittelgesetz entlassen wurde.

Antidementiva

Bei Antidementiva sind zwei Untergruppen zu unterscheiden: Acetylcholinesterase-Inhibitoren und Memantine. Antidementiva werden zur Behandlung von Alzheimer-Demenz eingesetzt.

Acetylcholin-Esterase-Inhibitoren verhindern den Abbau von Acetylcholin im synaptischen Spalt und führen über eine erhöhte Acetylcholin-Konzentration zu einer besseren Gedächtnisleistung.

Galantamin bewirkt zusätzlich zur Acetylcholin-Esterase-Inhibition noch eine allosterische Modifikation des nikotinergen Acetylcholin-Rezeptors. Rivastigmin inhibiert zusätzlich die Butyrylesterase. Memantine wirken als Partialantagonist am glutamatergen NMDA-(N-Methyl-D-Aspartat-)Rezeptor.

Antidepressiva

Vor allem selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer sollen sowohl Stimmung als auch die soziale Funktionsfähigkeit verbessern.

β-Blocker

β-Blocker haben eine beruhigende Wirkung, da sie die β-Adreno-Rezeptoren blockieren. Damit unterbinden sie die Adrenalinwirkung.

Koffein

Koffein ist nicht verschreibungspflichtig und wird deshalb ausdrücklich dem Neuro-Enhancement und nicht dem Doping zugeschrieben. Es wird tagtäglich von Vielen in Form des Genussmittels Kaffee eingenommen und moduliert das zentrale Nervensystem auf mindestens drei Wegen:

  • Die Nukleotidphosphodiesterase wird gehemmt und so eine Akkumulation von cAMP hervorgerufen. Die durch cAMP ausgelöste Adrenalin-Wirkung hält länger an und die Wirkung wird potenziert.
  • Adenosinrezeptoren werden vor allem im Striatum blockiert. Dadurch wird die durch Adenosin ausgelöste Vigilanzreduktion antagonisiert.
  • Intrazelluläres Calcium wird mobilisiert.

Die Wirkung von Energy Drinks basiert auf der Wirkung von Koffein, die zudem durch Taurin verstärkt wird. Taurin führt zu einer verbesserten Glucoseverwertung durch einen erhöhten Insulinspiegel.

Ginkgo biloba

Ginkgo biloba ist ein freiverkäufliches Produkt mit den Substanzen aus dem asiatischen Ginkgobaum. Es enthält vor allem Flavonoide und Terpenoide. Antioxidantien sollen oxidativem Stress entgegenwirken, außerdem führen anti-apoptotische Eigenschaften angeblich zu einer Neuroprotektion.

Verbreitung

Vielen Medienberichten[1] aber auch einschlägigen Fachpublikationen[2][3] zufolge ist Neuro-Enhancement weit verbreitet und/oder nimmt die Verbreitung zu. Dies ist jedoch in den letzten Jahren häufig als Fehler identifiziert und kritisiert worden.[4][5][6][7] Boris Quednow sprach daher auch von einer Phantomdebatte,[5] Jayne Lucke und Kollegen von einer Neuro-Enhancement-Blase.[4] Dass die Thesen zur Verbreitung auf einer falschen Interpretation von Untersuchungen nordamerikanischer Studierender beruhen und sich diese auch in den deutschen Medien fortgesetzt hat, beschrieb Stephan Schleim ausführlich.[6]

Die Meta-Analyse von Steve Sussmann und Kollegen hat ergeben, dass an Stelle der häufig genannten 16 % oder gar 25 % in den USA eher 4 % (Jahresprävalenz) älterer Teenager und junger Erwachsener zu pharmakologischen Studierhilfen greifen.[8] Die neuere Meta-Analyse von Elizabeth Smith und Martha Farah diskutiert 14 Untersuchungen zur Verbreitung im Mittelwert zwischen 0,3 und bis 35,3 % schwanken.[9] Dabei ist jedoch auffällig, dass die größeren, repräsentativ angelegten Befragungen mehrerer Tausend bis Zehntausend Menschen ausnahmslos Prävalenzraten im einstelligen Prozentbereich berichten. Kleinere, nicht-repräsentative Befragungen berichten hingegen manchmal Zahlen jenseits der zehn Prozent. Dabei ist jedoch zu beachten, dass die Studien teils sehr unterschiedliche Konstrukte untersuchten: Die meisten befragten ihre Teilnehmer nach nicht-medizinischem Konsum verschreibungspflichtiger Stimulanzien, der die Verwendung als Appetitzügler oder Partydroge ebenso einschließt wie die Verwendung als Studierhilfe im Sinne des Neuro-Enhancements. Ein frappierendes Beispiel für ein Missverständnis ist die Untersuchung von Babcock & Byrne aus dem Jahr 2000: Hierfür wurden nur 283 Studierende eines Colleges dazu befragt, ob sie mindestens einmal im Leben Amphetamin, Kokain oder Methylphenidat (der Wirkstoff im Medikament Ritalin) zu Erholungszwecken (engl. recreational use) gebraucht hatten. Für Methylphenidat bejahten dies 16,6 % der Befragten.[10] Dennoch wurde diese Zahl, die weder repräsentativ ist, noch sich überhaupt auf Neuro-Enhancement bezieht, häufig als Beleg für die These der hohen oder steigenden Verbreitung angeführt.[4][6]

Neue Zahlen aus Deutschland stimmen damit überein, dass es sich beim Neuro-Enhancement noch um kein Massenphänomen handelt: Dem DAK-Gesundheitsreport 2009 mit dem Schwerpunktthema Doping am Arbeitsplatz zufolge Verwenden ca. ein bis zwei Prozent der Erwerbstätigen im Alter von 20 bis 50 Jahren in Deutschland potente Wirkstoffe zur Steigerung der geistigen Leistungsfähigkeit oder Verbesserung der Stimmung ohne medizinische Notwendigkeit.[11] Die nicht-repräsentative Untersuchung von Schülern in drei deutschen Städten sowie Studierender der Medizin, Pharmazie und Betriebswirtschaftslehre in Mainz von Andreas Franke und Kollegen ergab, dass 1,6 % der Schülern und 0,8 % der Studierenden mindestens einmal im Leben ein verschreibungspflichtiges Stimulans zum Zwecke des Neuro-Enhancements verwendet hatten.[12] Für in Deutschland illegale Drogen betrug die Lebenszeitprävelenz 2,4 % beziehungsweise 2,9 %. In der KOLIBRI-Studie des Robert-Koch-Instituts wurden 2010 deutschlandweit Personen zum Konsum leistungsbeeinflussender Mittel in Alltag und Freizeit befragt. Insgesamt gaben 1,5% an, in den vergangenen 12 Monaten einmal Medikamente oder illegale Mittel zum Neuroenhancement verwendet zu haben.[13] Im Jahr 2012 hat die HIS GmbH die Ergebnisse der repräsentativen Befragung ca. 8000 Studierender in Deutschland zu Verbreitung und Mustern von Hirndoping und Medikamentenmissbrauch veröffentlicht.[14] Hier gaben 5 % den Konsum verschreibungspflichtiger Medikamente, Schmerzmittel, Beruhigungsmittel, Psychostimulanzien oder Aufputschmittel an. Jedoch konsumierte fast die Hälfte von ihnen diese Mittel nur selten, nur 17 % (oder 0,9 % der Gesamtstichprobe) taten dies regelmäßig.

Daraus folgt, dass es den besten verfügbaren Studienergebnissen zufolge in Nordamerika und Deutschland nur eine kleine Gruppe Studierender gibt, die bereits Neuro-Enhancement betreiben. Insbesondere dann, wenn es um den regelmäßigen Konsum geht, liegen die Zahlen im unteren einstelligen Prozentbereich oder sogar noch unter 1 %. Neuro-Enhancement ist also weder ein Massenphänomen, noch ist es neu, denn schon lange vorher haben kleine Gruppen von Menschen mit den Möglichkeiten von Medikamenten und Drogen zur Leistungssteigerung experimentiert.

Wirksamkeit und ethische Diskussion

Ob sich die Stimmung oder die geistige Leistungsfähigkeit gesunder Menschen durch die Einnahme verschreibungspflichtiger Medikamente oder illegaler Drogen langfristig und ohne größeres Risiko steigern lässt, ist nach wie vor offen.[15][16] Dimitris Repantis und Kollegen haben dies vor kurzem sowohl für Antidepressiva[17] als auch für Modafinil und Methylphenidat[18] untersucht. Dabei fanden sie heraus, dass es weder hinreichende Belege für positive gefühls- oder leistungssteigernde Effekte durch die Einnahme von Antidepressiva noch von Methylphenidat gab. Für Modafinil fanden sie einen positiven Effekt auf die Aufmerksamkeit sowie dem Entgegenwirken der Folgen von Schlafentzug.

Ob diese Konsumenten sich dadurch einen unfairen Vorteil verschaffen und indirekt andere Menschen nötigen, diese Präparate ebenfalls einzunehmen, um nicht abgehängt zu werden, ist Gegenstand der ethischen Diskussion. Auch wird stark diskutiert, ob die Teils extremen Nebenwirkungen in einem akzeptablen Verhältnis zum Nutzen dieser Substanzen stehen. Nebenwirkungen, die bei Kranken in Kauf genommen werden, sind meist bei Gesunden inakzeptabel. Um die ethische Diskussion um die Neuro-Enhancer stärker in das öffentliche Bewusstsein zu rücken, haben sieben Forscher ein Memorandum zum Neuro-Enhancement veröffentlicht. In diesem Memorandum befürworten die Autoren eine vorurteilslose und offene Diskussion.

Um der Problematik nicht hinterherzuhinken, sollte die Öffentlichkeit die Diskussion stärker fördern und sich um Entscheidungen über die Legalität und den Nutzen dieser Substanzen bemühen.

Einzelnachweise

  1. siehe z.B. die Meta-Analyse: Partridge, B. J., Bell, S. K., Lucke, J. C. et al. (2011). "Smart Drugs As 'Common As Coffee': Media Hype about Neuroenhancement". PLoS One 6(11):e28416
  2. Greely, H., Sahakian, B., Harris, J. et al. (2008). "Towards responsible use of cognitive-enhancing drugs by the healthy". Nature 456: 702-705
  3. Mohamed, A. D. & Sahakian, B. J. (2012). "The ethics of elective psychopharmacology". International Journal of Neuropsychopharmacology 15: 559–571
  4. 4,0 4,1 4,2 Lucke, J. C., Bell, S., Partridge, B. & Hall, W. (2011). "Deflating the Neuroenhancement Bubble". American Journal of Bioethics - Neuroscience 2(4): 38-43
  5. 5,0 5,1 Quednow, B. B. (2010). "Ethics of neuroenhancement: A phantom debate". BioSocieties 5(1): 153-156
  6. 6,0 6,1 6,2 Schleim, S. (2010). "Cognitive Enhancement – Sechs Gründe dagegen". In: H. Fink & R. Rosenzweig (Hrsg.), "Künstliche Sinne, gedoptes Gehirn", S. 179-208
  7. Schleim, S. (2010). "Second thoughts on the prevalence of enhancement". BioSocieties 5(4): 484-485
  8. Sussmann, S., Pentz, M. A., Spruijt-Metz, D. & Miller, T. (2006). "Misuse of 'study drugs:' prevalence, consequences, and implications for policy". Substance Abuse Treatment, Prevention, and Policy 1: 15
  9. Smith, M. E. & Farah, M. J. (2011). "Are Prescription Stimulants 'Smart Pills'? The Epidemiology and Cognitive Neuroscience of Prescription Stimulant Use by Normal Healthy Individuals". Psychological Bulletin 137(5): 717-741
  10. Babcock, Q. & Byrne, T (2000). "Student perceptions of methylphenidate abuse at a public liberal arts college" Journal of American College Health 49(3): 143-145
  11. DAK Gesundheitsreport 2009, S. 60; siehe dazu auch die DAK-Pressemitteilung
  12. Franke, A. G., Bonertz, C., Christmann, M. et al. (2011). "Non-Medical Use of Prescription Stimulants and Illicit Use of Stimulants for Cognitive Enhancement in Pupils and Students in Germany". Pharmacopsychiatry 44(2): 60-66
  13. Schilling, R., Hoebel, J., Müters, S., Lange, C. (2012) Pharmakologisches Neuroenhancement. Hrsg. Robert-Koch-Institut Berlin, GBE kompakt (3)3 [1]
  14. HISBUS-Befragung zur Verbreitung und zu Mustern von Hirndoping und Medikamentenmissbrauch: Formen der Stresskompensation und Leistungssteigerung bei Studierenden
  15. Quednow, B. B. (2010). "Ethics of neuroenhancement: A phantom debate". BioSocieties 5(1): 153-156
  16. Smith, M. E. & Farah, M. J. (2011). "Are Prescription Stimulants 'Smart Pills'? The Epidemiology and Cognitive Neuroscience of Prescription Stimulant Use by Normal Healthy Individuals". Psychological Bulletin 137(5): 717-741
  17. Repantis, D., Schlattmann, P., Laisney, O. & Heuser, I. (2009). "Antidepressants for neuroenhancement in healthy individuals: a systematic review". Poiesis & Praxis 6:139-174
  18. Repantis, D., Schlattmann, P., Laisney, O. & Heuser, I. (2010). "Modafinil and methylphenidate for neuroenhancement in healthy individuals: A systematic review". Pharmacological Research 62: 187-206

Literatur

  • A. G. Franke, K. Lieb: Pharmakologisches Neuroenhancement und „Hirndoping“ – Chancen und Risiken. In: Bundesgesundheitsblatt. 2010/8, S. 853–860. doi:10.1007/s00103-010-1105-0
  • Farah u. a.: Neurocognitive enhancement: what can we do and what should we do? In: Nature Reviews Neuroscience. 5, S. 421–425 doi:10.1038/nrn1390 (PDF-Datei; 100 kb)
  • C. Normann, M. Berger: Neuroenhancement: status quo and perspectives. In: European Archives of Psychiatry and Clinical Neuroscience. 258, Supplement 5, S. 110–114 doi:10.1007/s00406-008-5022-2
  • B. Sahakian, S. Morein-Zamir: Professor's little helper. In: Nature. 450(7173), S. 1157–1159.
  • M. Berger, C. Normann: Hirndoping: Kosmetik für graue Zellen. In: Gehirn&Geist. Oktober 2008, S. 36–41 (PDF-Datei; 258 kb)
  • G. Stix: Neuro-Enhancer: Doping für das Gehirn. In: Spektrum der Wissenschaft. Vol. 01, 2010, S. 46–54 (PDF-Datei; 851 kb)
  • L. Iversen: Speed, Ecstasy, Ritalin. Verlag Hans Huber, Bern 2009, ISBN 978-3-456-84519-7.

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