Populationsdenken


Als Populationsdenken bezeichnet man in der Evolutionsbiologie eine Denkweise, die dem essentialistischen Denken gegenübersteht. Diese Denkweise wurde von Charles Darwin eingeführt, der sie jedoch nicht explizit beschrieb, sondern nur benutzte und seinem Theorem des Gradualismus zugrunde legte. Der Begriff wurde von August Weismann eingeführt und von Ernst Mayr als grundlegender Unterschied zwischen den biologischen und physikalischen Wissenschaften beschrieben.

Der Unterschied zwischen beiden Denkweisen besteht darin, dass das essentialistische (physikalische) Denken diskrete Objekte betrachtet und sich mit deren Gesetzmäßigkeiten beschäftigt. Das Populationsdenken hingegen beschäftigt sich nicht mit Objekten, sondern mit den Kombinationen von Objekten, wobei die Objekte selbst nebensächlich sind. Aus diesem Umstand leiten sich zahlreiche Unterschiede zwischen biologischen und physikalischen Wissenschaften ab.

Essentialistisches Denken aus biologischer Sicht

Essentialistisches Denken liegt dann vor, wenn Objekte mit diskreten Eigenschaften betrachtet werden, ihren sogenannten Essenzen:

  • Ein Beispiel: Auch Elementarteilchen oder Atome stellen essentielle Objekte dar, deren Merkmale aus ihren Bestandteilen resultieren. Sie lassen sich auf (jeweils bekannte) kleinste Einheiten immer gleichförmiger Strukturen zurückführen, die sich nicht oder nur in einigen wenigen, sehr genau definierbaren Merkmalen voneinander unterscheiden (Essenzen). Wasserstoff-Atome sind beispielsweise keine Individuen, sondern stets auf gleichförmige Weise aufgebaut. Kennt man den Aufbau eines Atoms dieses Typen, so kann man ihn auf alle Atome des gleichen Typs bedenkenlos verallgemeinern. Graduelle Übergänge zwischen einem Wasserstoff-Atom und einem anderen Atom-Typus gibt es nicht.

Das essentialistische Denken ist deshalb diskret, diskontinuierlich oder typologisch. Eine Entwicklung eines Objektes ist nur innerhalb seines Typus möglich, da eine notwendige sprunghafte Veränderung stets dazu führt, dass es einem anderen Typus angehört: Ein Wasserstoff-Atom mit einem weiteren Proton ist kein Wasserstoff-Atom mehr.

Populationsdenken

Dem entgegen steht das Populationsdenken, denn es betrachtet keine Objekte, sondern Individuen, die aus Kombinationen von Objekten bestehen. Die Kombinationen sind dabei eigentlicher Gegenstand des Denkens und sie lassen beliebig analoge Übergänge zu. So werden Tiere und Pflanzen als Individuen gesehen, die sich graduell von anderen Angehörigen ihrer Population unterscheiden (daher „Populationsdenken“). Auch die Arten untereinander weisen in der Vergangenheit graduelle Übergänge zu einander auf. Gleiches gilt für die Gegenstände aller anderen biologischen Wissenschaften, wie etwa die Vorstellungsinhalte der Psychoanalyse oder die Lerneinheiten im Behaviorismus.

Populationsdenken versus essentialistisches Denken

Betrachtet man die Evolution, die als Vorgang und Ursache im Kern jeder biologischen Erscheinung steht, so zeigt sich, dass das essentialistische Denken nur begrenzt dazu geeignet ist, sie ausreichend zu beschreiben. Eine Anwendung besteht in der Typologie (siehe auch Kladistik), in der rezente Organismen deskriptiv noch so beschrieben werden können, als hätten sie keine Geschichte. Doch bereits bei der Betrachtung von (fossilen) Abstammungslinien zeigt sich ein entscheidender Mangel des essentialistischen Denkens, denn es ist hier nicht mehr möglich, die Typen (Familien, Gattungen, Arten) aufrechtzuerhalten. Die klassische Kladistik ist in der Paläontologie alleinfalls ein Provisorium.

Überall, wo in der Biologie beispielsweise von Typen die Rede ist, („Wildtyp“, „Zuchtform“) wird suggeriert, es gäbe eine Essenz, einen Standard, von dem Mutationen als abweichend geordnet werden könnten. Tatsächlich liegen aber Fortpflanzungsgemeinschaften vor, in der kein einziges Individuum eine „berechtigtere“ oder „echtere“ Beschaffenheit hätte als ein anderes. Jedes Individuum ist einzigartig und weicht mit graduellen Stufen von seinen Zeitgenossen ab.

Auch die derzeit heftig diskutierten Probleme mit dem Artenbegriff gehen auf eine unvollständige Überwindung des essentialistischen Denkens in der Biologie zurück. So leben verschiedene Möwen rings um den nördlichen Polarkreis, wobei jede Population mit ihren Nachbarn kreuzbar ist. Verfolgt man die Reihe der Populationen jedoch, so gelangt man zum Ausgangspunkt zurück und stellt fest, dass die Tiere der End- und Ausgangspopulation sich nicht mehr miteinander kreuzen lassen und demnach verschiedenen Arten angehören müssen. Das essentialistische Konzept vom Typus greift hier nicht mehr. Allgemein wird dieses Problem bei der Betrachtung von Abstammungslinien.

Ähnliche Probleme sind in der Biologie weit verbreitet und entstehen nach Ernst Mayr durch die unvollständige Überwindung des essentialistischen Denkens in der Biologie. Er fordert deshalb die Emanzipation der Biologie.

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