Kladistik


Die Kladistik (von griechisch κλάδος klados „Ast“, „Verästelung“) – ungenau auch oft mit phylogenetischer Systematik gleichgesetzt – ist eine Methode der biologischen Systematik innerhalb der Evolutionsbiologie. Sie wurde von dem deutschen Zoologen Willi Hennig in den 1950er-Jahren in ihren Grundzügen umrissen und in seinem Lehrbuch Phylogenetic Systematics 1966 beschrieben.

Zielsetzung der Kladistik

Die phylogenetische Systematik bezweckt, ein System der Organismen zu erstellen, das ausschließlich auf phylogenetischer Verwandtschaft basiert. Gruppen innerhalb eines solchen Systems sind immer monophyletisch.[1] Eine monophyletische Gruppe enthält alle Nachfahren einer Stammart sowie die Stammart selbst, jedoch keine Arten, die nicht Nachfahre dieser Stammart sind. Die Merkmalsausstattung der Stammart entspricht dem während der Analyse zu rekonstruierenden Grundmuster. Grundlage für die Erstellung monophyletischer Gruppen sind gemeinsame abgeleitete Merkmale, so genannte Synapomorphien. Das Grundmuster repräsentiert die Gesamtheit der nicht abgeleiteten Merkmale (Plesiomorphien) der Gruppen. Im Gegensatz zum idealen Bauplan, welcher die Gesamtheit aller Merkmale einer Gruppe in sich vereint, entspricht also der Grundplan dem Körperbau und der Merkmalsausprägung einer Art, die real existiert hat.

Das Ergebnis einer kladistischen Analyse ist eine Verwandtschaftshypothese, die als „Kladogramm“ (Hennig: „Argumentationsschema der phylogenetischen Systematik“) dargestellt wird. Anders als ein Stammbaum hat das Kladogramm nur terminale Taxa. Es lässt damit also nicht die Entwicklung einer rezenten Form aus einer anderen zu, oder, anders ausgedrückt, keine lebende (rezente) Art kann und darf Stammart einer anderen rezenten Art sein. Fossile Arten können in ein Kladogramm integriert werden, sie bilden dann aber ebenfalls terminale Taxa. Das bedeutet, die Zuordnung einer fossilen Art als der tatsächlichen Stammart wird vermieden. Knoten eines Kladogramms stellen die Stammart der beiden aus ihr hervorgehenden Schwestergruppen dar. Autapomorphien der jeweiligen Schwestergruppen sind abgeleitete Merkmale, die allen Taxa dieser Gruppe gemeinsam sind, und die bei der Schwestergruppe nicht auftreten.

Die Kladistik widerspricht einem so genannten „Fortschrittsvorurteil“, das eine Entwicklung „von den Wirbellosen zu den Menschen festzustellen meint. Ein grundsätzliches Problem dieser Sichtweise ist, dass dazu der Mensch an die Spitze gestellt werden muss. Tatsächlich steht der „Tendenz“, Wirbel auszubilden, genauso eine „Tendenz“ gegenüber, wirbellos zu bleiben, wie die viel größere Artenvielfalt der Wirbellosen demonstriert. Sie basiert ausschließlich auf phylogenetischer Verwandtschaft und nimmt dazu äußere Merkmale zwar als Hinweis, fasst aber Taxa niemals nur anhand des Aussehens zusammen.

Phylogenetische Systematik ist eine historische Wissenschaft, da man die Phylogenese der Organismen nicht beobachten, sondern nur rekonstruieren kann. Daher werden alle Verwandtschaftshypothesen immer nicht experimentell zu bestätigende Hypothesen bleiben. Die phylogenetische Systematik versucht, widerspruchsfreie Hypothesen aufzustellen und Verwandtschaftshypothesen, die miteinander in Konflikt stehen, aufzulösen. Die Methodik der phylogenetischen Systematik gibt dem Wissenschaftler ein Instrumentarium an die Hand, das ihm erlaubt, seine Argumentation reproduzierbar darzulegen.

Kladogramme

Prinzip des Kladogramms; beide Darstellungen sind hinsichtlich ihrer Aussage identisch

Die Darstellung der Verwandtschaftsverhältnisse erfolgt in so genannten Kladogrammen. Diese unterscheiden sich von evolutionären Stammbäumen in den folgenden Punkten:

  • Bei einer Verzweigung gibt es immer nur zwei Äste (dichotome Verzweigung).
  • Die Verzweigungen werden nicht gewichtet, man hat also kein Maß für die Änderung, um es in einem Kladogramm darzustellen. (In evolutionären Stammbäumen kann man ein solches Maß in unterschiedlichen Streckenlängen für Abzweigungen darstellen, siehe auch Divergenz).
  • Es gibt keine absolute Zeitachse.
  • Alle Artspaltungsereignisse werden in der möglichst realistischsten Form dargestellt.

Jeder Ast ist durch ein abgeleitetes Merkmal begründet. Was dieses Merkmal jeweils sein soll, ist Gegenstand der Forschung. So kann man zum Beispiel Plazentatiere über ihre Plazenta von den Beuteltieren unterscheiden, diese wiederum besitzen als Alleinstellungsmerkmal gegenüber den Plazentatieren z.B. eine Reduktion der ausgebildeten Milchzähne. Der namensgebende Beutel ist allerdings keine Synapomorphie, sondern ist innerhalb der Beuteltiere mehrfach entstanden (Konvergenz), auch besitzen nicht alle Beuteltiere einen Beutel bzw. einige haben ihn reduziert.

Kladogramm der Säugetiere

Dieser Zusammenhang soll hier am Beispiel eines vereinfachten Kladogrammes der Säugetiere dargestellt werden:

          (Beuteltiere)(Plazentaria)
                \        /
  (Milchzähne reduziert)/
                  \  (Plazenta)
                   \  /
                    \/
   Monotremata    Theria
          \        /
       (Kloake)   /
            \  (Milchzitzen)
             \  /
              \/
              /
             /
        Säugetiere

Wichtig ist, dass alle Äste mindestens eine Autapomorphie aufweisen.

Merkmale des Grundmusters können innerhalb der Gruppe wieder verloren gehen. Dies ist dann eine Autapomorphie des betroffenen Taxons. Ein Beispiel hierfür ist der sekundäre Verlust der Flügel bei vielen Fluginsekten (Pterygota).

Kladogramm „Mensch, Gorilla und Schimpanse“

Charles Darwin nahm an, dass zwischen den unten aufgeführten Arten die nächste Verwandtschaft zwischen Gorillas und Schimpansen bestünde und der Mensch eine Sonderstellung habe. Stephen Jay Gould sieht Indizien dafür, dass Menschen und Schimpansen sich am nächsten stehen und sich die Gorillas in der Entwicklungsgeschichte früher abgespalten haben.

andere
Menschenaffen Gorillas Menschen Schimpansen
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            Kladogramm nach Mark Abraham

Konstruktion von Kladogrammen

Bei einer kladistischen Analyse einer Gruppe von Taxa wird versucht, deren Verwandtschaftsverhältnisse zu rekonstruieren und das resultierende Verzweigungsmuster als Kladogramm abzubilden. Ausgangspunkt der Analyse ist es in der Regel, so viele aussagekräftige Merkmale wie nur möglich zu sammeln. Möglicherweise aussagekräftig sind dabei alle Merkmale, die bei einem Teil der analysierten Taxa vorkommen, bei einem anderen Teil nicht. Entgegen dem früheren Vorgehen in der Systematik verzichtet man heute in der Regel darauf, die Merkmale zu gewichten. Gibt man einigen Merkmalen a priori ein höheres Gewicht als anderen, besteht die Gefahr, dass Vorurteile des Bearbeiters die Analyse verzerren. Nützlich für die Analyse sind dabei ausschließlich Merkmale, die Syanapomorphien darstellen. Gemeinsam ererbte Stammgruppenmerkmale (Symplesiomorphien) sind für die Analyse irrelevant, (Aut-)Apomorphien eines einzelnen Taxons betonen zwar dessen Eigenständigkeit, sind aber für seine Verwandtschaft nicht erhellend. Normalerweise werden die berücksichtigten Merkmale in Form einer Charaktermatrix aufbereitet und dargestellt, in der die Ausprägung des Merkmals durch eine Zahl kodiert wird (z.B. "Flügel vorhanden": 1, "flügellos": 0).

Für die Analyse muss selbstverständlich vorher (anhand der Remaneschen Homologiekriterien) die Homologie der Merkmale soweit wie nur möglich geklärt worden sein. Gemeinsame Merkmale, die konvergent entstanden sind, oder Merkmale, die auf paralleler Evolution beruhen (das sind Merkmale, die bei nah verwandten Arten auf vergleichbarer genetischer Grundlage unabhängig voneinander entstanden sind), können die Analyse verzerren, wenn sie unerkannt bleiben. Sind betrachtete Merkmale durch Konvergenzen und zahlreiche unabhängige Entstehungen und Rückbildungen so geprägt, dass sie kaum noch zur Analyse beitragen, spricht man von Homoplasie. In vielen Fällen ist es unmöglich, den Grad der Homoplasie vorher zu bestimmen. Starke Homoplasie der analysierten Merkmale entwertet das resultierende Kladogramm, weshalb zur Homoplasie neigende Merkmale soweit als möglich vermieden werden sollten.

Das Hauptproblem bei der kladistischen Analyse sind Rückbildungen von Merkmalen. Betrachtet man z.B. die Gruppen der Felsenspringer (Archaeognatha), Eintagsfliegen (Ephemeroptera) und Flöhe (Siphonaptera) anhand des Merkmals "Flügelausbildung", so sind Flügel nur bei den Eintagsfliegen vorhanden. Dies liegt im Fall der Felsenspringer daran, dass sie von primär ungeflügelten Vorfahren abstammen. Die Flöhe hingegen hatten geflügelte Vorfahren, nur sind bei ihnen die Flügel ohne jeden Rest zurückgebildet worden. Sind in diesem Fall die Zusammenhänge aufgrund zahlreicher anderer Merkmale noch eindeutig aufklärbar, ist dies bei zahlreichen anderen Gruppen keinesfalls mit gleicher Sicherheit zu sagen. Es kommt sogar vor, dass einzelne Stammlinien ein Merkmal zurückbilden, so dass es dann bei einzelnen Linien seiner Nachkommen unabhängig davon ein zweites Mal erworben wird. Die Frage, ob ein bestimmtes Merkmal bei der Stammgruppe vorhanden war, und also bei den Linien, die es nun nicht aufweisen, rückgebildet worden ist, oder ob es bei den Vorfahren fehlte und innerhalb der betrachteten Gruppe in einer oder mehreren Linien neu erworben wurde, wird die "Polarität" des Merkmals genannt. Zur Bestimmung der Polarität werden sog. Außengruppen in die Analyse mit einbezogen. Eine Außengruppe kann jedes Taxon sein, das mit den analysierten Arten zwar verwandt ist, aber das mit Sicherheit und klar außerhalb des betrachteten Verwandtschaftskreises steht. Aus naheliegenden Gründen sollte es ein wenig spezialisiertes Taxon mit wenigen Autapomorphien sein. Die Wahl der Außengruppe(n) kann die Analyse ganz erheblich beeinflussen.

In der klassischen Vorgehensweise Hennigs wurde ein Kladogramm nun dadurch konstruiert, dass man durch Klärung der Polaritäten eine hypothetische Stammform konstruierte, und dann die betrachteten Taxa durch einzelnes oder gruppenweises Hinzufügen ausprobierend solange anordnete, bis sich ein überzeugender Stammbaum ergab. In der modernen kladistischen Analyse wird dieser Schritt von einem Sortieralgorithmus übernommen. Dazu werden die durch die Merkmalsmatrix beschriebenen Taxa solange permutiert, bis ein Verzweigungsmuster minimaler Länge gefunden ist. Die Außengruppen-Taxa können in diese Analyse mit einbezogen werden. Dieses kürzeste Verzweigungsmuster gilt dann als wahrscheinlichste Hypothese der Verwandtschaftsverhältnisse. Dies wird als "parsimony" (engl. Geiz, Sparsamkeit) bezeichnet. Am häufigsten verwendet wird das Sortierprogramm PAUP ("phylogenetic analysis using parsimony"), es gibt allerdings eine Reihe weiterer gängiger Programme. Gibt es zwei oder mehr unterschiedliche Stammbäume gleicher Länge, sind diese untereinander gleichwertige Hypothesen, und die Verwandtschaft ist nicht entscheidbar. Erstes Analyseergebnis ist allerdings einfach ein Verbindungsgraph. Um diesen in ein Kladogramm zu verwandeln, muss die Polarität geklärt sein (d.h., es muss klar sein, welche der Verzweigungen als erste stattgefunden haben). Dies kann entweder aus der Datenanalyse abgeleitet werden oder (bei guter Kenntnis der Außengruppen) erzwungen werden. Dieser Schritt wird als "Verwurzelung" (engl. "rooting") des Kladogramms bezeichnet.

Biologische Systematik

Monophylum: Das Taxon der Sauropsida ist monophyletisch, da es alle Arten der gemeinsamen Stammart einschließt.
Paraphylum: Das Taxon der Reptilien ist paraphyletisch, da es die Vögel nicht mit einschließt.
Polyphylum: Ein auf ein konvergentes Merkmal (hier „Warmblütigkeit“ bei Vögeln und Säugetieren) begründetes Taxon ist polyphyletisch.

Die biologische Systematik versteht sich heute als eine Wissenschaft, die Lebewesen anhand ihrer Abstammung klassifiziert. Daher ist die Kladistik eine ihrer Arbeitsmethoden.

Bei der Erstellung eines Kladogramms werden Eigenschaften der betrachteten Lebewesen verglichen. Es werden oft, aber nicht ausschließlich, morphologische Merkmale, Charakteristika des Stoffwechsels und genetische Informationen benutzt.

Danach wird eine Vielzahl von Kladogrammen erstellt. Dasjenige Kladogramm mit der geringsten Anzahl von notwendigen Veränderungen innerhalb des angenommenen Evolutionsverlaufes gilt als das wahrscheinlichste. Oft ist es bei der Angabe eines Kladogramms von Interesse, andere Kladogramme, die mit einer sehr ähnlichen Anzahl von Veränderungen konstruiert sind, ebenfalls zu betrachten.

Die Bioinformatik bedient sich für die Rekonstruktion von Kladogrammen diverser Standardsoftware, die multiple Sequenzalignments und die Variabilität einzelner Reste auswerten, wie zum Beispiel Phylip.

Die traditionelle Namensgebung in der Biologie kann die baumartige Struktur der evolutionären Entwicklung nicht fassen. Daher wird eine phylogenetische Namensgebung, PhyloCode genannt, diskutiert.

Verwandtschaftsverhältnisse

Die Schwestergruppen von Kladogrammen (hier zum Beispiel Menschen und Schimpansen) entsprechen nicht immer den bisher gebräuchlichen Einteilungseinheiten (Taxa) der biologischen Klassifikation. Man bezeichnet Taxa nach ihrer tatsächlichen Verwandtschaft als:

  • monophyletisch – das Taxon (Gruppe) hat eine gemeinsame Stammform und umfasst auch alle Untergruppen, die sich von dieser Stammform herleiten, sowie die Stammform selbst, jedoch keine anderen Gruppen. Das Monophylum begründet sich durch Apomorphien der gemeinsamen Stammform und wird auch als geschlossen bezeichnet. – Beispiel: Metazoa umfasst alle Mehrzeller, welche das apomorphe Merkmal Mehrzeller vereint.
  • paraphyletisch – das Taxon (Gruppe) hat zwar eine gemeinsame Stammform, enthält aber nicht alle Taxa, wie es beim Monophylum der Fall ist. Ein Paraphylum begründet sich durch Plesiomorphien der Schwestertaxa und wird auch als offen bezeichnet. – Beispiel: Die Reptilien sind paraphyletisch, da die Vögel klassischerweise nicht zu ihnen gezählt werden, obwohl sie sich aus den Dinosauriern entwickelt haben und somit denselben Stamm haben wie alle anderen Tierarten der Gruppe der Reptilien. Das Taxon der Sauropsida, welches die Klasse der Reptilien und die Klasse der Vögel zusammenfasst, ist hingegen monophyletisch.
  • polyphyletisch – die Gruppe hat keine gemeinsame Stammform – Beispiel: Die „Würmer“ im alten Sinn umfassen verwandtschaftlich völlig unterschiedliche Gruppen.

Wichtige Begriffe

Autapomorphie, Synapomorphie, Plesiomorphie, Symplesiomorphie, Kronengruppe

Literatur

  • Peter Ax: Das Phylogenetische System. Urban & Fischer Bei Elsevier, Stuttgart 1997. ISBN 343730450X
  • Peter Ax: Systematik in der Biologie. 1988
  • Willi Hennig: Grundzüge einer Theorie der phylogenetischen Systematik. Deutscher Zentralverlag, Berlin 1950.
  • Willi Hennig: Phylogenetische Systematik. Verlag Paul Parey, Berlin 1982.
  • Willi Hennig: Aufgaben und Probleme stammesgeschichtlicher Forschung. Verlag Paul Parey, Berlin 1984.
  • Oliver Rieppel: Einführung in die computergestützte Kladistik. Verlag Dr. Friedrich Pfeil, München 1998. ISBN 3931516571
  • Walter Sudhaus, Klaus Rehfeld: Einführung in die Phylogenetik und Systematik. Gustav Fischer Verlag, Stuttgart 1992. ISBN 3827407311
  • Johann Wolfgang Wägele: Grundlagen der Phylogenetischen Systematik. Verlag Dr. Friedrich Pfeil, München 2000. ISBN 3931516938
  • Bernhard Wiesemüller, Hartmut Rothe, Winfried Henke: Phylogenetische Systematik. Eine Einführung. Springer-Verlag, Berlin 2003, ISBN 354043643X
  • Rainer Willmann: Die Art in Raum und Zeit. Verlag Paul Parey, Berlin 2005.

Weblinks

  • T. Ryan Gregory: Understanding Evolutionary Trees. Evo Edu Outreach (2008) 1:121–137 DOI 10.1007/s12052-008-0035-x PDF Volltext (540 kB)

Erläuterungen

  1. Die Gruppe der Fische oder Amphibien basiert auf phylogenetischer Verwandtschaft, aber trotzdem sind weder Fische noch Amphibien eine monophyletische Gruppe. (Fische enthalten als Nachfahren alle Wirbeltiere. Und Amphibien enthalten als Nachfahren alle Landwirbeltiere.)

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