Flexible Mundwerkzeuge ermöglichten extremen Artenreichtum winziger Wespen



Bio-News vom 26.01.2022

Ein Forschungsteam untersucht derzeit große Mengen von sehr kleinen Insekten mit Röntgenstrahlen, um den Gründen ihrer außergewöhnlichen Vielfalt auf die Spur zu kommen. Hierbei machten die Forschenden eine überraschende Entdeckung: Winzige Erzwespen besitzen spezielle Mundwerkzeuge, die Ihnen einen einzigartigen evolutionären Vorteil verschafft haben.

Insekten gehören zu den artenreichsten und vielfältigsten Organismengruppen der Welt. Durch das derzeit schnell voranschreitende Artensterben und die daraus entstehende Bedrohung unserer Ökosysteme sind sie stärker in den Blickpunkt des öffentlichen Interesses gerückt. Vor allem durch genetische Untersuchungen wird der evolutionäre Stammbaum der Insekten immer besser verstanden. Welche der vielen konkreten Anpassungen im Körperbau - sogenannte morphologische Merkmale - jedoch entscheidend zur Artenvielfalt einzelner Insektengruppen geführt haben, ist bislang noch weitgehend unerforscht.


Erzwespen verdanken ihren Namen ihrem metallischen Glanz. Abgebildet ist die in Mitteleuropa heimische Wespe Perilampus ruficornis, natürliche Größe: 4 mm.

Publikation:


van de Kamp T et al.
Evolution of flexible biting in hyperdiverse parasitoid wasps
Proc. R. Soc. B 289: 20212086

DOI: 10.1098/rspb.2021.2086



Als einer der wichtigsten Evolutionsschritte der Insekten galt bisher die Entwicklung von kauend-beißenden Mundwerkzeugen mit Kiefern (Mandibeln), die über zwei Gelenke mit dem Kopf verbunden sind und ein kraftvolles Zubeißen ermöglichen. Nach gängiger Lehrmeinung wurde diese Form der Mundwerkzeuge bereits vor über 400 Millionen Jahren entwickelt und findet sich bis heute nahezu unverändert bei allen beißenden Insekten wie den Schaben, Heuschrecken, Käfern oder Ameisen. Ein internationales Team, geleitet von Forschenden des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) und des Staatlichen Museums für Naturkunde Stuttgart (SMNS), entdeckte nun bei der besonders artenreichen Insektengruppe der Erzwespen einen völlig neuen Typ von Mundwerkzeugen: Flexible Mandibeln, die diesen winzigen Insekten einen wichtigen evolutionären Vorteil gebracht haben.

“Weltweit gibt es geschätzte 500.000 Arten von Erzwespen. Die meisten entwickeln sich parasitisch in oder an anderen Insekten. Daher besitzen sie eine wichtige Funktion für unser Ökosystem und werden zudem erfolgreich in der biologischen Schädlingsbekämpfung eingesetzt”, so Prof. Dr. Lars Krogmann, Leiter der Abteilung Entomologie (Insektenkunde) und Interimsdirektor des SMNS.

Warum ausgerechnet die winzigen Erzwespen so artenreich geworden sind, war bislang weitgehend unklar. Die meist nur wenige Millimeter großen Tiere parasitieren andere Insekten, die den Wespenlarven somit als Nahrung dienen. Den Erzwespen gelingt dies in allen denkbaren Lebensräumen. Ein Schlüssel für diesen Erfolg liegt in ihrer Fähigkeit, auch verborgene Insekten in schwer zugänglichen Umgebungen, wie zum Beispiel Holz oder anderen Pflanzenteilen, als Wirte nutzen zu können. Die große Herausforderung für die Wespen besteht darin, nach dem Schlupf diese Wirte verlassen zu können, wobei sie sich auch durch das den Wirt umgebende Pflanzenmaterial hindurchbeißen müssen. Für diese Lebensweise können die bisher von anderen Insekten, einschließlich der meisten Wespenarten, bekannten fest eingelenkten Kauwerkzeugen einen Nachteil darstellen.


Digitale 3D-Rekonstruktion der flexiblen Mundwerkzeuge einer Erzwespe (Chromeurytoma sp.).

Die nun entdeckten flexiblen Mandibeln erlauben den Erzwespen innerhalb eines beengten Schlupfortes ein Schneiden in jeder möglichen Bewegungsrichtung. Wahrscheinlich ermöglichten erst diese Präzisionswerkzeuge den Erzwespen die Erschließung neuer Wirtsgruppen. Deren Entwicklung stellt damit ein evolutionäres Schlüsselereignis zur Besetzung neuer ökologischer Nischen dar und schuf damit die Voraussetzung für die Entstehung ihrer heutigen Artenvielfalt.

An der KIT Light Source, einer Beschleunigeranlage zur Erzeugung und Nutzung intensiven Röntgenlichts, hat das Forscherteam verschiedene Erzwespenarten und andere Wespengruppen mittels sogenannter Röntgenmikrotomographie gescannt. Ähnlich wie bei der medizinischen Tomographie werden Röntgenbilder aus verschiedenen Blickrichtungen aufgenommen, aus denen sich die Morphologie - der dreidimensionale Körperbau - rekonstruieren lässt. Im Vergleich zur medizinischen Tomographie geschieht dies jedoch mit einer viel höheren Auflösung und Geschwindigkeit.

“Die Methode erlaubte uns eine detaillierte, digitale Darstellung des Inneren der Wespenköpfe, einschließlich ihrer Mandibeln und der Muskulatur. Überraschend zeigte sich, dass sämtliche Erzwespen flexibel bewegliche Mandibeln besitzen, während dies bei allen anderen Wespen nicht der Fall ist”, so Dr. Thomas van de Kamp, verantwortlich für die biologische Bildgebung am Institut für Photonenforschung und Synchrotronstrahlung (IPS).

Vergleichende morphologische Studien an Insekten erfordern oft die Untersuchung einer Vielzahl von Individuen und profitieren daher von schnellen, zerstörungsfreien Bildgebungsmethoden. “Die derzeit am KIT entwickelte und durch künstliche Intelligenz und Robotertechnik beschleunigte Hochdurchsatz-Röntgenbildgebung ermöglicht uns die vollständige Digitalisierung der 3D-Morphologie einer großen Anzahl von Insekten und eröffnet damit den Zugang zu noch umfangreicheren vergleichenden Studien zu ähnlichen Fragestellungen” sagt Prof. Dr. Tilo Baumbach, Direktor des IPS.

Daher ist die Kooperation mit dem KIT ein wichtiger Bestandteil der neuen Forschungsstrategie des SMNS, welches zukünftig verstärkt auf den Einsatz solch bildgebender Verfahren setzt. “Nun können wir im großen Maßstab morphologische Forschungsdaten generieren, die Digitalisierung unserer ganzen wissenschaftlichen Sammlung vorantreiben und darüber hinaus attraktive digitale Angebote in unseren Ausstellungen anbieten”, so Krogmann.

Die Forschungsergebnisse zu den flexiblen Mandibeln der Erzwespen zeigen das große Potential, das in den wissenschaftlichen Sammlungen von Naturkundemuseen steckt. Weitere Geheimnisse, die in diesem Archiv des Lebens schlummern, sollen im Rahmen zukünftiger Studien gelüftet werden.


Diese Newsmeldung wurde mit Material Staatliches Museum für Naturkunde Stuttgart via Informationsdienst Wissenschaft erstellt

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