Schimpansen finden sich in virtuellen Umgebungen zurecht



Bio-News vom 27.06.2022

Mit Hilfe von Touchscreens durchquerten sechs Schimpansen aus dem Zoo Leipzig eine virtuelle Landschaft um zu einem weit entfernten Baum zu gelangen, unter dem sie verschiedene Früchte fanden. Sie gelangten sogar von verschiedenen Ausgangspositionen aus dorthin. Geleitet von Forschenden belegt die aktuelle Studie erstmals empirisch, wie Schimpansen in einer dem Freiland nachempfundenen virtuellen Umgebung navigieren können. Dabei werden Gemeinsamkeiten zur Fortbewegung durch reale Landschaften deutlich.

Schimpansen-Navigation im Freiland zu untersuchen, ist eine große Herausforderung, weil wir nicht genau wissen, an welchen Landschaftsmerkmalen sich die Tiere orientieren, um ihr Ziel zu erreichen“, sagt Francine Dolins, Projektleiterin und Professorin an der University of Michigan-Dearborn. „Die virtuelle Realität verschafft uns eine bessere Kontrolle darüber, welche potentiellen Orientierungshilfen Schimpansen zur Verfügung stehen und wo sie sich im Verhältnis zu den virtuellen Futterquellen, wie zum Beispiel einem Obstbaum, befinden.“


Schimpansen lernten schnell, sich in virtuellen Landschaften zurechtzufinden.

Publikation:


Matthias Allritz, Josep Call, Ken Schweller, Emma S. McEwen, Miguel de Guinea, Karline R. L. Janmaat, Charles R. Menzel and Francine L. Dolins
Chimpanzees (Pan troglodytes) navigate to find hidden fruit in a virtual environment
Science Advances (2022)

DOI: 10.1126/sciadv.abm4754



An der Studie nahmen drei erwachsene männliche und drei erwachsene weibliche Schimpansen teil, die im Zoo Leipzig leben. Alle sechs Schimpansen hatten bereits Erfahrung im Umgang mit Touchscreens, fünf von ihnen hatten bereits etwas Erfahrung mit 3D-Videospielen gesammelt. Durchgeführt wurde die Studie in den Tieren vertrauten Räumlichkeiten des Wolfgang-Köhler-Primatenforschungszentrums (WKPRC), das am Leipziger Zoo angesiedelt ist, und wo sie auch sonst regelmäßig Zugang zu Touchscreen-Aufgaben haben.

Lernen, in virtuellen Umgebungen zu navigieren

Für die Studie wurde eine neue, maßgeschneiderte VR-Anwendung, der APExplorer 3D, entwickelt. Die App ermöglicht es den Primaten, in Egoperspektive durch eine virtuelle Cartoon-Landschaft zu navigieren, in der sich 3D-Objekte befinden, mit denen die Tiere interagieren können. „Bei der Entwicklung der App war es uns vor allem wichtig, für die Schimpansen eine komplexe, farbenfrohe und interessante 3D-Landschaft zu gestalten, die sie ganz intuitiv durch Berühren des Bildschirms erkunden können“, sagt der leitende Softwareentwickler Kenneth Schweller von der Ape Initiative in Des Moines, Iowa, in den USA.

Über einen Touchscreen-Monitor steuerten die Schimpansen ihr virtuelles „Ich“ durch eine offene Landschaft über Grashügel, Bäume, Felsen und andere Hindernisse hinweg. Über einen Monat hinweg wurden den Schimpansen immer anspruchsvollere Navigationsaufgaben gestellt. Dabei zeigten sie in der virtuellen Umgebung kognitive Prozesse und Verhaltensmuster, die Schimpansen auch im realen Freiland nutzen, wie zum Beispiel die Suche nach und Orientierung an bestimmten Landschaftsmerkmalen und die Optimierung der Routeneffizienz.

Schimpansen erledigten Navigationsaufgaben beeindruckend schnell

Matthias Allritz, Postdoc-Wissenschafler an der University of St. Andrews und am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig, erklärt: „Fast alle Tiere durchstreifen ihre Umgebung, um Nahrung, Schutz und Partner zu finden. Aufgrund räumlicher Einschränkungen in Zoos ist es natürlich schwierig, das Navigationsvermögen nichtmenschlicher Primaten experimentell zu untersuchen. Mit Hilfe der virtuellen Realität können die Tiere nun weitläufige, kontrollierbare Landschaften interaktiv erkunden – darunter auch neue, unbekannte Landschaften.“



Navigation in virtuellen Umgebungen ähnelt der realen Navigation

Josep Call, ein weiterer Projektleiter und Professor an der University of St. Andrews, sagt: „Unsere Studie zeigt, dass nicht-invasive Studien in offenen virtuellen Landschaften ein großes Potenzial für die Erforschung des räumlichen Denkvermögens von Primaten haben. Die Schimpansen, die an unserer Studie teilgenommen haben, erlernten grundlegende Spielmechanismen schnell und zeigten schon bald Lern- und Entscheidungsmuster, die der Navigation im wirklichen Leben ähneln. Sie lernten, bestimmte Objekte als Orientierungspunkte zu erkennen, sich an ihnen zu orientieren und sie zu suchen, wenn sie sie nicht sehen konnten. Und sie passten sich flexibel an Situationen an, in denen die Verfügbarkeit der (virtuellen) Nahrung weniger vorhersehbar war – einige Affen waren dabei klar schneller als andere.“

„Sollten unsere Ergebnisse durch künftige Studien bestätigt und auf andere Primatenarten ausgeweitet werden können, so haben wir mit naturgetreuen virtuellen Welten ein wichtiges neues Instrument zur Hand, um noch ungeklärte Fragen zur Evolution und Entwicklung der Primaten-Navigation zu beantworten, die bisher bei Zoo- und Wildtieren gleichermaßen schwer erforschbar waren“, erklärt Call.

Die Evolution der menschlichen Navigationsfähigkeiten verstehen

Schimpansen sind die nächsten lebenden Verwandten des Menschen. Wenn wir verstehen, wie sie Navigationsentscheidungen treffen und wie sie Reiserouten erkennen, sich an sie erinnern und über sie nachdenken, hilft uns das nicht nur, Schimpansen besser zu verstehen. Auch zur Erforschung, wie sich das Navigationsvermögen des Menschen im Laufe der Evolution entwickelt hat, sind diese Erkenntnisse von entscheidender Bedeutung“, ergänzt Allritz.

Außerdem können Schimpansen ihr kreatives Denken und ihre Problemlöse- und Innovationsfähigkeit schulen, indem sie spielerisch virtuelle Landschaften durchqueren. „Das hilft nicht nur den Forschenden dabei, das räumliche Denkvermögen von Schimpansen zu untersuchen“, sagt Francine Dolins. „Genauso wichtig ist, dass diese virtuellen Aufgaben für im Zoo lebende Primaten bereichernd und fesselnd sind, da sie ihnen Wahlmöglichkeiten und Kontrolle bieten: sie können selbst entscheiden, was sie sich ansehen, wohin sie gehen und welche Bereiche der virtuellen Umgebung sie erkunden wollen.“


Diese Newsmeldung wurde mit Material des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie via Informationsdienst Wissenschaft erstellt

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