Die Anatomie der Feuchtnasenaffen
Alle heute lebende Feuchtnasenaffen, ob Loris, Galagos oder Lemuren, haben zwei spezielle Merkmale gemeinsam, die auch bei Millionen Jahre alten Fossilien identifiziert werden können - ihr ungewöhnlicher Zahnkamm und die "Putzkralle" auf dem zweiten Zeh ihrer Füße.
Ähnlich wie Darwins Galapagos-Finken kann man die Feuchtnasenaffen auf Madagaskar als eindrucksvolles Experiment der Evolution bezeichnen.
Woher sie kamen und wie sie Madagaskar besiedelten, ist noch nicht vollständig geklärt (Siehe "Ursprung der madagassischen Primaten"). Isoliert und ohne ökologische Konkurrenz von anderen Primatenarten und vielen anderen Säugetieren (bis der Mensch auf die Insel kam), entwickelte sich diese Linie zu einer sehr facettenreichen Fauna mit einer breiten Palette an Anpassungen des Bewegungsapparats und der Ernährungsweise.
Zu den madagassischen Feuchtnasenaffen gehören die kleinsten lebenden Primaten, die Mausmakis (Microcebus) mit gerade mal 60g Körpergewicht, aber auch kürzlich ausgestorbene Arten wie Megaladapis † und Archaeoindris †, die soviel wie heutige Gorillas gewogen haben dürften.
Unter den Feuchtnasenaffen Madagaskars gibt es Arten, die sich auf Insekten, auf Baumharze, auf Früchte, Nektar, Blätter oder Pflanzensamen spezialisiert haben - und sie haben spezielle Gebisse, die an die jeweils vorherrschenden Ernährungsgewohnheiten angepasst sind. Viele Arten sind ungeheuer akrobatische Springer, sie sind baum- oder bodenlebende Vierfüßler oder langarmige Arten, die aufrecht in den Bäumen hängen. Andere wie der koala-ähnliche Megaladapis † oder der faultier-ähnliche Archaeoindris † haben in Bezug auf ihren Bewegungsapparat keine Analogien unter den heute lebenden Primaten. Genau wie die Körperproportionenen und viele Aspekte der Muskulatur oder der Skelettanatomie stehen viele anatomische Eigenschaften funktionell in Zusammenhang mit ihren unterschiedlichen Verhaltenweisen.
Die madagassischen Primaten umfassen zahlreiche tagaktive, nachtaktive und cathemerale Arten. Dabei scheinen sie aber äußerst flexibel zu sein, wie etwa der Mongozmaki (Eulemur mongoz), der je nach Umweltbedingungen zwischen Tag- und Nachtaktivität umschalten kann - eine Verhaltensweise, die bei anderen Primaten unbekannt ist. Verallgemeinerungen über die soziale Organisation der madagassischen Primaten sind schwierig, da viele Aspekte noch schlecht verstanden sind, und weil keine Informationen über das Verhalten der größeren, tagaktiven und in einigen Fällen wahrscheinlich terrestrischen, subfossilen Arten verfügbar sind. Viele Arten, vor allem die nachtaktiven, sind sehr primitiv mit relativ einfachen sozialen Strukturen, während die Arten, die in größeren Gruppen mit mehreren Männchen und Weibchen leben, eine Sozialorganisation pflegen, die eindeutig ganz anders ist, als die der meisten höheren Primaten (Haplorhini)..
Die Gruppen scheinen von Weibchen dominiert zu werden und unter den Männchen scheint es - außer während der Fortpflanzungszeit - kaum Wettbewerb zu geben. Dementsprechend und im Gegensatz zu den meisten höheren Primaten (und vielen anderen Säugetieren), zeigen die madagassischen Primaten sehr wenig Sexualdimorphismus. Es ist derzeit unklar, wie die einzigartige Sozialorganisation der madagassischen Strepsirhini mit der starken Saisonalität der Fortpflanzung, mit dem reduzierten Druck durch Raubtiere oder anderer, einzigartiger Eigenschaften mit ihrer evolutionären Vergangenheit in Zusammenhang steht.
Neben den vielfältigen Lemuren Madagaskars, gibt es eine andere, weniger artenreiche Gruppe von Feuchtnasenaffen, die durch die Galagos in Afrika und die Loris in Asien und Afrika vertreten sind. Diese Primaten teilen mit den madagassischen Feuchtnasenaffen als besonderes Merkmal den Zahnkamm und die Putzkralle auf der zweiten Zehe. Jedoch gibt es einige Schädelmerkmale, in denen sie sich deutlich von den meisten Primaten Madagaskars unterscheiden. Dazu gehört z.B. die Blutversorgung des Gehirns hauptsächlich durch die Arteria pharyngea ascendens , und nicht durch die Arteria stapedia. In der Gehörregion ist bei Galagos und Loris der Trommelfellring mit der lateralen Schädelwand verschmolzen, und nicht innerhalb der Bulla verwachsen. In diesen beiden Merkmalen zeigen die Loris und Galagos gewisse Ähnlichkeiten mit den Katzenmakis (Cheirogaleidae) Madagaskars. Die allgemeine Schädelmorphologie ist bei Loris und Galagos sehr ähnlich und unterscheidet sich von Indriiden und den meisten Lemuriden. Galagos und Loris sind nachtaktive Baumbewohner, jedoch unterscheiden sich die beiden Familien in ihrer postcranialen Morphologie und im Bewegungsapparat. Galagos sind vor allem kraftvolle Springer, Loris sind langsame Kletterer.