Atavismus
Ein Atavismus (von lateinisch atavus ‚Urahn‘[1]), veraltet auch Rückschlag, ist das Wiederauftreten von anatomischen Merkmalen bei einem Lebewesen, die bei den entfernteren evolutionären Vorfahren ausgebildet waren, dem unmittelbaren Vorfahren jedoch abgingen[1]. Häufig werden Atavismen daher als Missbildung wahrgenommen. Sie zählen, ebenso wie die Rudimente, zu den klassischen Evolutionsbelegen. In einem erweiterten Sinne wird der Begriff auch in der Ethologie für ursprüngliche Verhaltensweisen angewandt. Der Terminus wurde 1901 von Hugo de Vries in die Literatur eingeführt[1].
Anatomischer Atavismus
Auf der gegenwärtigen Entwicklungsstufe besitzen diese anatomischen Merkmale keine weitere Funktion und sind seit Generationen verschwunden. Beispiele hierfür sind: Halsfisteln beim Menschen als Überbleibsel der während der Embryonalentwicklung angelegten Kiemenbogen, ausgeprägtes herausgewachsenes Steißbein, Hornzipfel, zusätzliche Brustwarzen entlang der Milchleiste (Polythelie und Polymastie), starke Körperbehaarung (Lanugohaar), Schwimmhäute, Fortbewegen nur auf allen Vieren und der sog. Darwin-Ohrhöcker.
Atavismen kommen nicht nur beim Menschen vor. Alle Organismen können mehr oder weniger ausgeprägte Anomalien einer früheren Entwicklungsstufe aufweisen.
Bei Pferden kommt es so hin und wieder zur Bildung überzähliger Zehen (Griffelbein), bei Rindern von drei statt üblicherweise zwei Klauen sowie bei Meeressäugetieren wie Walen und Delphinen kommt es zur Bildung von Extremitäten, die den Beinen von Landtieren ähneln.
Weniger bekannt sind Atavismen bei Pflanzen, doch wurden solche bereits im 19. Jahrhundert erforscht.[2] Dazu gehören unter anderem die Pelorienbildung bei Blütenpflanzen, Eschen mit nur ein- oder dreifach gegliederten Blättern (Einblattesche) sowie Kakteen mit auftretenden Blättern.
Grundsätzlich sollten atavistische Formen auch bei Bakterien, Pilzen und Protisten auftreten. Allerdings sind sie aufgrund der starken Variabilität dieser Organismenformen und teilweise nicht vollständig geklärter Abstammungsverhältnisse schwieriger eindeutig zu identifizieren und von Neubildungen zu unterscheiden.
Nach der Rekapitulationstheorie von Ernst Haeckel rekapituliert die Ontogenese (= Entwicklung eines Individuums) die Phylogenese (= Stammesentwicklung). Dies bedeutet, dass Lebewesen in ihrer Keimesentwicklung vom befruchteten Ei an zeitlich verkürzt und unvollständig die Schritte der Stammesentwicklung – beispielsweise von der Qualle (entspricht Blastozyste) über den Fisch (Kiemenbogen), die Reptilien (Schwanzwirbelsäule) und über die Primaten (Lanugofell) bis zum Menschen – durchlaufen. Bei Störungen der Ontogenese bei einer speziellen Entwicklungsstufe kommt es so zur Ausprägung eines typischen atavistischen Merkmals.
Ursachen von Atavismen
Die Bildung von Atavismen kann folgende Ursachen haben:
- Hemmungsmissbildungen: Verhinderte artspezifische Ausdifferenzierung vorübergehend vom Embryo durchlaufener Organbildungsstadien mit Rekapitulation früherer Merkmale;
- Mutativer Atavismus: Wiederherstellung der Ahnenform durch Mutation bestimmter Gene oder Änderungen der Genregulation mit erneuter Aktivierung reprimierter (latenter) Gene;
- Hybrid-Atavismus: Ausbildung früherer gemeinsamer Merkmale bei der Bastardisierung nahe verwandter Arten untereinander.
Verhaltensatavismus
Ein Verhaltensatavismus wird z. B. gelegentlich bei Haussperlingen beobachtet. Diese bauen üblicherweise ihre Nester in Nischen, die an ihre bevorzugte Umgebung gut angepasst sind. Es kommt aber auch vor, dass einzelne Haussperlinge stattdessen Kugelnester errichten, wie sie für ursprüngliche Webervögel charakteristisch sind.
Literatur
- Ulrich Kutschera: Evolutionsbiologie, 3. Auflage, Verlag Eugen Ulmer, Stuttgart, 2008, ISBN 3-8252-8318-6
Weblinks
Illustrationen von Atavismus beim Menschen
- Außenansicht, Röntgenaufnahme und englische Erläuterung dreier Fälle des menschlichen Schwanzes (englisch, PDF, 386 KiB)
Illustrationen von Atavismus bei Tieren
Illustrationen von Atavismus bei Pflanzen
- Illustration des Atavismus der Pelorienbildung bei Blüten
- Bild der Einblattesche mit ungegliederten Blättern
Referenzen
- ↑ 1,0 1,1 1,2 Ulrich Lehmann: Paläontologisches Wörterbuch. 4. Auflage. Ferdinand Enke Verlag, Stuttgart 1996, S. 23.
- ↑ Vgl. Ettingshausen und Krasan: Beiträge zur Erforschung der atavistischen Formen an lebenden Pflanzen und ihrer Beziehungen zu den Arten ihrer Gattung. K.&K. Hof- und Staatsdruckerei, Wien 1889.