Heterochronie


Heterochronie (von griechisch ἕτερος, heteros, „abweichend“ und χρόνος, chrónos, „Zeit“) bezeichnet eine evolutionäre Änderung des zeitlichen Verlaufs der Individualentwicklung eines Lebewesens, die bewirkt, dass sich

  • der Beginn oder das Ende eines Entwicklungsvorgangs – beispielsweise der Entwicklung des Gebisses – verschiebt oder
  • die Geschwindigkeit eines solchen Vorgangs ändert. Ein Beispiel hierfür ist die Beschleunigung des Größenwachstums bei endothermen Wirbeltieren („Warmblütern“) im Vergleich zu ihren ektothermen („wechselwarmen“) Vorfahren.

Pädomorphose und Peramorphose

Treten Merkmale der frühen Entwicklungsstadien (Juvenilstadien) eines Vorfahren im Erwachsenenstadium (Adultstadium) eines Nachfahren auf, wird das als Pädomorphose bezeichnet. Umgekehrt, wenn Merkmale der späteren Stadien (Adultstadien) einer Vorfahrenart während der Jugendzeit einer Nachfolgeart durchlaufen werden, wird das als Peramorphose bezeichnet.

Formen der Pädomorphose – wie die Neotenie, bei der sich die Ausbildung eines Adultmerkmals verzögert – und die Progenese, bei der die Merkmalsausprägung zu einem früheren Zeitpunkt der Entwicklung abgebrochen wird, sind sowohl rezent als auch fossil in vielen Gruppen nachgewiesen. So stellt beispielsweise die Verzwergung bei agnostiden Trilobiten, thecideiden Brachiopoden und in vielen anderen Gruppen eine Form der Pädomorphose dar. Auch das Beibehalten von Außenkiemen bis in das Erwachsenenstadium, das für manche Amphibienarten charakteristisch ist, wird durch Pädomorphose hervorgerufen.

Eine Ahnenreihe von Arten, in der das Erwachsenenstadium immer stärker den frühen Stadien der Vorfahren gleicht, das heißt, immer „kindlicher“ wird, kann als Pädomorphokline bezeichnet werden. Entsprechend erhalten Entwicklungsreihen, innerhalb derer ehemalige Erwachsenenstadien der Vorfahren zu einen immer früheren Zeitpunkt vorkommen, die Bezeichnung Peramorphokline.

Peramorphose liegt beispielsweise dann vor, wenn durch Verlängerung der Wachstumsphase (Hypermorphose) oder durch Wachstumsbeschleunigung bestimmte Organe gegenüber denen der Vorfahren vergrößert sind. Auch eine allgemeine Körpervergrößerung innerhalb von Entwicklungsreihen kann als Peramorphose interpretiert werden.

Mechanismen und Bedeutung der heterochronen Evolution

Heterochronie kann durch eine oder wenige häufig auftretende Mutationen hervorgerufen werden, beispielsweise an Genen, die das Ausschütten von Wachstumshormonen regulieren (siehe Riesenwuchs) oder auf andere Weise das Timing während der Ontogenese beeinflussen (siehe auch Hox-Gen).

Aus diesem Grund reagieren Populationen auf bestimmte Selektionsdrücke häufig mit Heterochronie: Bei Ressourcenverknappung auf einer Insel, ist die Verkleinerung der Körpergröße („Inselverzwergung“) meist eine „sparsamere“, das heißt, weniger Mutationen und Evolutionsschritte erfordernde Lösung als beispielsweise das Ausbilden von Flügeln oder Flossen.

Da die Fähigkeit, heterochron zu evolvieren, auf diese Weise in vielen Situationen das Realisieren anderer aufwändigerer Lösungen verhindert, wirkt sie als evolutionäre Schranke (evolutionary constraint), die den Verlauf der Stammesgeschichte einer Gruppe in bestimmte Bahnen lenkt (kanalisiert).

Weblinks

Literatur

  • Glenn S. Jaecks, Sandra J. Carlson: How phylogenetic inference can shape our view of heterochrony: examples from thecideide brachipods. In: Paleobiology, Band 27, Nr. 2, 2001, S. 205–225
  • Michael L. McKinny (Hrsg.): Heterochrony in evolution: a multidisciplinary approach. Plenum, New York 1988
  • Kenneth J. McNamara: Importance of Heterochrony. In: Derek. E. G. Briggs, Peter R. Crowther (Hrsg.): Palaeobiology II. Blackwell, Oxford 2001, S. 180–187, ISBN 0-632-05147-7
  • Kenneth J. McNamara, Michael L. McKinney: Heterochrony, disparity, and macroevolution. In: Paleobiology, Band 31, Nr. 2, 2005, S. 17–26
  • Douglas S. Jones, Stephen Jay Gould: Direct Measurement of Age in Fossil Gryphaea: The Solution to a Classic Problem in Heterochrony. In: Paleobiology, Band 25, Nr. 2, 1999, S. 158–187

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