Little Foot


Die vier namensgebenden Fußknochen von „Little Foot“

Little Foot („kleiner Fuß“) bezeichnet das vollständigste bisher entdeckte Skelett eines frühen Vertreters der Hominini.[1] Es wurde in einer Kalkstein-Formation in Sterkfontein (Südafrika) entdeckt und wird in den Fachveröffentlichungen zur Gattung Australopithecus gestellt. Der Spitzname „kleiner Fuß“ entstand, da von diesem Fossil 1995 zunächst vier zusammengehörige Fußgelenkknochen beschrieben wurden. Aus der Beschaffenheit dieser Fußknochen wurde abgeleitet, dass ihr Besitzer zum aufrechten Gang befähigt war. Jedoch sei die große Zehe noch opponierbar gewesen.

Die Bergung der Knochen erwies sich als äußerst schwierig und langwierig, da sie vollständig in betonartig harte Brekzie aus Dolomit und Radiolarit eingebettet sind. Die Bergung ist daher noch immer nicht vollständig abgeschlossen (Stand: Ende 2011).

Fundgeschichte

Die vier Fußgelenkknochen waren bereits 1980 – unerkannt zwischen zahlreichen anderen Säugetierknochen – in einer zuvor jahrzehntelang industriell abgebauten Kalkstein-Höhle (Silberberg Grotto) aufgesammelt, aber bis 1994 nur oberflächlich ausgewertet worden. Erst nachdem 1992 auf Initiative von Phillip Tobias in dieser Höhle ein großer Gesteinsbrocken abgesprengt worden war, der eine ungewöhnliche Anhäufung von Fossilien enthielt, wurden die bis dahin aus der Höhle geborgenen Fossilien von Ronald J. Clarke gründlich in Augenschein genommen. Am 6. September 1994 öffnete er einen mit Silberberg Grotto D 20 beschrifteten Karton, der u. a. eine Plastiktüte mit der Beschriftung carnivore foot bones (Fußknochen von Raubtieren) enthielt.[2] Einen dieser Fußknochen identifizierte Clarke sofort als hominin, und beim weiteren Durchstöbern der Sammlung stieß er auf drei weitere hominine Fußknochen, die im folgenden Jahr wissenschaftlich beschrieben wurden.[3] Da das linke Sprungbein, das linke Kahnbein, das linke Keilbein sowie der linke Mittelfußknochen als zusammengehörig erkannt worden waren , wurden zunächst weitere unausgewertete Bestände gesichtet und in diesen bis Juni 1997 acht weitere Fuß- und Handknochen entdeckt, die möglicherweise dem gleichen Fossil zugeschrieben werden konnten. Einer dieser Knochen – das Fragment eines rechten Schienbeins – wies eine relativ frische Bruchstelle auf, die frühestens in den 1920er-Jahren bei einer Sprengung zum Abbau von Kalkstein entstanden sein konnte.

Daraufhin bat Clarke Anfang Juli 1997 zwei Präparatoren seines Instituts, Stephen Motsumi und Nkwane Molefe, den ursprünglichen Fundort der Fossilien, 25 Meter unter der Oberfläche der Silberberg Grotto, erneut abzusuchen. Tatsächlich entdeckten die beiden in dieser Höhle mit den Ausmaßen einer mittelgroßen Kirche[4] am 3. Juli – nach nur zwei Tagen Suche mit Hilfe von Handlampen – das Gegenstück zum bereits bekannten Fragment.[5] In unmittelbarer Nähe zu diesem rechten Schienbein-Fragment entdeckten die beiden Präparatoren das aus dem Boden ragende Fragment eines linken Schienbeins, dessen Fortsetzung sich bereits unter den Jahre zuvor aus der Höhle geborgenen Fossilien befand, ferner ein linkes Wadenbein. Da sich die Knochenfunde beider Beine in anatomisch korrekter Anordnung befanden, vermuteten die Präparatoren, dass es sich um ein vollständiges Skelett handeln könnte, das mit dem Gesicht nach unten in den Kalkstein eingebettet worden war.

In den folgenden Monaten legten Clarke und seine beiden Assistenten mit Hilfe von Hammer und kleinen Meißeln zunächst weitere Fußknochen frei. Erste Überreste des Oberkörpers – einen Oberarmknochen – entdeckte Stephen Motsumi am 11. September 1998, und am 17. September wurde schließlich auch der Kopf des Individuums sichtbar: ein mit dem Unterkiefer verbundener Schädel, dessen linke Seite nach oben weist.

Ein Jahr später, im Juli und August 1999, wurden – abermals in anatomisch korrekter Anordnung – ein linker Unterarm sowie die zugehörige linke Hand entdeckt und teilweise freigelegt. Clarke berichtete von dieser Entdeckung sechs Monate später[6] und erläuterte nunmehr, alle bisherigen Analysen deuteten darauf hin, dass der fossile Leichnam offenbar vollständig, durch Geländebewegungen allenfalls geringfügig verschoben und auch nicht durch Raubtiere beschädigt worden sei. Ferner habe man in der Umgebung der Hand- und der Handgelenkknochen schmale, ehemalige Hohlräume entdeckt, die mit Calciumcarbonat verfüllt seien. Dies deute darauf hin, dass der Körper vermutlich bereits vor seiner vollständigen Verwesung von Gesteinsablagerungen umhüllt wurde.

Lebensweise

Schon in der 1995 veröffentlichten, ersten Beschreibung der vier zunächst entdeckten Fußknochen hatten die Autoren erläutert, dieser Australopithecus habe zwar aufrecht gehen können, sei jedoch auch in der Lage gewesen, auf Bäumen zu leben und mit Hilfe von Greifbewegungen – dank der noch opponierbaren Zehe – in diesen umher zu klettern. Der Bau des Fußes unterscheide sich nur geringfügig von dem eines Schimpansen.[7] Durch die weiteren, 1998 entdeckten Fußknochen sah Clarke sich in dieser anfänglichen Einschätzung bestätigt. Die aus Laetoli bekannten Fußabdrücke von Australopithecus und die Anordnung der in der Silberberg Grotto entdeckten Fußknochen weisen seiner Fundbeschreibung zufolge ein hohes Maß an Übereinstimmung auf. In seiner 1999 erschienenen Beschreibung der fossilen Handknochen wies Clarke darauf hin, dass sowohl die Länge der Handfläche als auch die Länge der einzelnen Fingerknochen deutlich kürzer sei als die der Schimpansen und Gorillas; die Hand wurde, „wie die der modernen Menschen“, als „relativ unspezialisiert“ bezeichnet. Unter Verweis auf Raubtierfunde, die zur Zeit der Australopithecinen in Afrika lebten, schloss sich Clarke der Auffassung von Jordi Sabater Pi an,[8] der 1997 argumentiert hatte, ein nächtlicher Aufenthalt am Boden sei für Australopithecus zu gefährlich gewesen, so dass er vermutlich – ähnlich den heute lebenden Schimpansen und Gorillas – Schlafnester auf Bäumen gebaut habe. Sein Körperbau lasse es ferner als möglich erscheinen, dass sich Australopithecus auch tagsüber zeitweise auf Bäumen aufgehalten habe, um dort Nahrung zu suchen.[9]

Ende 2008 publizierte Clarke eine Rekonstruktion der Umstände, aufgrund derer das Fossil so ungewöhnlich gut erhalten bleiben konnte.[10] Im Unterschied zu den anderen Knochenfunden in der gleichen Höhle, die augenscheinlich über längere Zeitspannen hinweg an ihren endgültigen Lagerort geschwemmt worden waren, befanden sich im Nahbereich des Fundhorizonts von Little Foot keine anderen Fossilien, wohl aber in darunter liegenden Fundhorizonten. Auch weist das Fossil keine Beschädigungen durch Raubtiere auf; es wurde also nicht als Beute in die Höhle verschleppt. Gleichwohl sind einzelne Knochen zerbrochen, ohne dass dies auf die Steinbrucharbeiten im frühen 20. Jahrhundert zurückgeführt werden kann. Aus diesen Befunden und aus genauen Analysen der Gesteinsschichten am Fundort des Fossils schloss Clarke daher, dass der Australopithecus – wie zuvor andere Tiere – durch ein Loch im Dach der Höhle in diese gestürzt sein muss und dort verendete. Kurze Zeit später sei das Loch vermutlich durch hineinstürzendes Material verstopft worden, so dass kein Wasser mehr eindringen und die Knochen des Kadavers wegspülen konnte.

Datierung

Als schwierig und im Ergebnis bisher unbefriedigend erwies sich die Altersbestimmung des Fundes, da es im Bereich der Fundstelle keine vulkanischen Schichten gibt, anhand derer eine sichere absolute Datierung möglich war. Daher wurde im Juli 1995 – auf Grundlage einer relativen Datierung anhand von fossilen Meerkatzenverwandten und einiger Carnivoren – ein geschätztes Alter von 3,0 bis 3,5 Millionen Jahre ausgewiesen, weswegen das Fossil als der bis dahin älteste Fund eines Vertreters der Hominini in Südafrika bezeichnet wurde; diese Alterszuschreibung passte exakt zu den seit 1978 bekannten und als sicher datiert geltenden homininen Fußspuren von Laetoli. In einer zweiten Analyse der Begleitfunde wurde diese Datierung jedoch bereits im März 1996 als zu alt kritisiert und stattdessen rund 2,5 Mio. Jahre als das wahrscheinlichere Alter benannt.[11] Zu einem ähnlichen Ergebnis kam 2002 eine Studie, der zufolge Little Foot „jünger als 3 Mio. Jahre“ ist.[12] Ein Jahr später wurde dann aber auf Basis der Aluminium-Beryllium-Methode sogar ein Alter von mehr als 4 Millionen Jahren publiziert.[13] Ende 2006 ergab eine neuerliche Studie mit Hilfe der Uran-Blei-Datierung jedoch ein Alter von 2,17 ± 0,17 Mio. Jahren.[14] Diese Datierung wird durch eine 2011 publizierte paläomagnetische Analyse des einbettenden Schichtpaketes bestätigt, die ein Mindestalter von 2,2 Mio. Jahren und ein Höchstalter von 2,58 Mio. Jahren ergeben hat.[15] Eine frühere paläomagnetische Datierung von etwa 3,3 Millionen Jahren basierte auf einer falschen Annahme zum Mindestalter der hangenden Schichten.[16]

Taxonomische Einordnung

Bis heute ist der Fund (Archivnummer Stw 573) keiner bestimmten Art der Gattung Australopithecus zugeordnet worden. In der ersten Fundbeschreibung vom Juli 1995 hieß es zwar: „Die Knochen gehören vermutlich zu einem frühen Angehörigen von Australopithecus africanus oder zu einer anderen frühen Art der Hominiden“. Nachdem 1998 ein Teil des Schädels entdeckt und freigelegt worden war, wies Ron Clarke nunmehr darauf hin, dass der Fund zwar vermutlich der Gattung Australopithecus zuzuordnen sei, jedoch dessen „ungewöhnliche Merkmale“ mit keiner bis dahin beschriebenen Australopithecus-Art übereinstimmen.[17]

Erst Ende 2008 legte sich Clarke dann endgültig fest, beschrieb zahlreiche Merkmalsabweichungen zwischen einerseits Little Foot, andererseits Australopithecus africanus sowie Australopithecus afarensis und ordnete das Fossil einer zweiten, seinerzeit in Südafrika neben Australopithecus africanus lebenden und bislang unbenannten Art zu.[18] Er griff damit zugleich Überlegungen von Robert Broom und Raymond Dart auf, die bereits in den 1930er-Jahren diverse Funde aus Taung, Sterkfontein und Makapansgat (der „Cradle of Humankind“) zu unterschiedlichen Arten gestellt hatten; später hatte sich für diese Funde aber international die gemeinsame Bezeichnung Australopithecus africanus durchgesetzt.

Nach dem Fund des rund zwei Millionen Jahre alten Australopithecus sediba, der im Jahr 2008 nur 15 km von Sterkfontein entfernt in der Malapa-Höhle entdeckt worden war, wurde die Vermutung geäußert, dass Little Foot ein Vorfahre von Australopithecus sediba gewesen sein könnte; eine detaillierte Beschreibung von Little Foot, anhand derer die Verwandtschaft mit anderen Arten fachlich erörtert werden könnte, wurde von Clarke jedoch erst für Ende 2012 angekündigt.[19]

Siehe auch

Literatur

  • Jörn Auf dem Kampe: Der Schatz von Sterkfontain. In: Geo, 06/2011, S. 78–92
  • Am Anfang eine Leiche. In: Der Spiegel. Nr. 51, 1998 (online).

Weblinks

  • scinexx.de (2006) Vormensch „Little Foot“ aus dem Rennen? Neue Datierung macht Australopithecus-Skelett mehr als eine Million Jahre jünger.

Einzelnachweise

  1. Reiner Protsch von Zieten, Ronald J. Clarke: The oldest complete skeleton of an Australopithecus in Africa (StW 573). In: Anthropologischer Anzeiger, Band 61, 2003, S. 7–17
  2. Die Darstellung der Fundgeschichte folgt einer Beschreibung von Donald Johanson im Editorial zum Newsletter des Institute of Human Origins der Arizona State University vom Mai 2005, [1] sowie in der Fundbeschreibung von Clarke aus dem Jahr 1998 im South African Journal of Science, Band 94, S. 460 f.
  3. Ronald J. Clarke, Phillip Tobias: Sterkfontein member 2 foot bones of the oldest South African hominid. In: Science, Band 269, 1995, S. 521–524; doi:10.1126/science.7624772
  4. talkorigins.org: Fossil Hominids: Stw 573 (Little Foot)
  5. Ronald J. Clarke: First ever discovery of a well-preserved skull and associated skeleton of Australopithecus. In: South African Journal of Science, Band 94, 1998, S. 460–463
  6. Ronald J. Clarke: Discovery of the complete arm and hand of the 3.3 million-year-old Australopithecus skeleton from Sterkfontein. In: South African Journal of Science, Band 95, 1999, S. 477–480
  7. „Its foot has departed to only a small degree from that of the chimpanzee.“ Clarke und Tobias, Science 269, 1995, S. 524
  8. Jordi Sabater Pi et al.: Did the First Hominids Build Nests? In: Current Anthropology, Band 38, Nr. 5, 1997, S. 914–916; doi:10.1086/204682
  9. „I also think it probable that it spent parts of the day feeding in the trees, as do the orang-utans and chimpanzees.“ Clarke, South African Journal of Science, Band 95, 1999, S. 480
  10. Ron J. Clarke: Latest information on Sterkfontein’s Australopithecus skeleton and a new look at Australopithecus. In: South African Journal of Science, Band 104, 2008, S. 443–449
  11. So Jeffrey K. McKee von der südafrikanischen Witwatersrand-Universität in einem Technischen Kommentar in Science, Band 271, 1. März 1996, S. 1301
  12. Lee R. Berger et al.: Revised age estimates of Australopithecus-bearing deposits at Sterkfontein, South Africa. In: American Journal of Physical Anthropology, Band 119, Nr. 2, 2002, S. 192–197; doi:10.1002/ajpa.10156
  13. T. C. Partridge et al.: Lower Pliocene Hominid Remains from Sterkfontein. In: Science, Band 300, 2003, S. 607–612; doi:10.1126/science.1081651
    spiegel.de vom 25. April 2003: „Stand die Menschheitswiege in Südafrika?“
  14. Joanne Walker, Robert A. Cliff, Alfred G. Latham: U-Pb Isotopic Age of the StW 573 Hominid from Sterkfontein, South Africa. In: Science, Band 314, 2006, S. 1592–1594; doi:10.1126/science.1132916
  15. Andy I. R. Herries, John Shaw: Palaeomagnetic analysis of the Sterkfontein palaeocave deposits: Implications for the age of the hominin fossils and stone tool industries. In: Journal of Human Evolution, Band 60, Nr. 5, 2011, S. 523–539, doi:10.1016/j.jhevol.2010.09.001
  16. Timothy C. Partridge et al.: The new hominid skeleton from Sterkfontein, South Africa: age and preliminary assessment. In: Journal of Quarternary Science, Band 14, 1999, S. 293–298; Volltext
  17. „I prefer to reserve judgement on the fossil’s exact taxonomic affinities, although it does appear to be a form of Australopithecus“. Zitiert aus Clarke, The first discovery of a well-preserved skull…, S. 462
  18. Ron J. Clarke: Latest information on Sterkfontein's Australopithecus skeleton..., S. 443
  19. Michael Balter: Paleoanthropologist now rides high on a new fossil tide. In: Science, Band 333, Nr. 6048, 2011, S. 1374, DOI:10.1126/science.333.6048.1373