Klinefelter-Syndrom


Klassifikation nach ICD-10
Q98.0 Klinefelter-Syndrom, Karyotyp 47, XXY
ICD-10 online (WHO-Version 2019)

Das Klinefelter-Syndrom ist eine numerische Chromosomenaberration (Aneuploidie) der Geschlechtschromosomen, die bei Jungen bzw. Männern auftritt. Menschen mit diesem Syndrom besitzen, abweichend vom üblichen männlichen Karyotyp (46, XY), ein zusätzliches X-Chromosom in allen (47, XXY) oder einem Teil der Körperzellen (mos 47, XXY / 46, XY).[1]

Geschichte

Die Besonderheit wurde erstmals unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten im Jahr 1942 von dem US-Amerikaner Harry F. Klinefelter beschrieben.[2][3]

Merkmale

Die Chromosomenbesonderheit wirkt sich auf die kognitive und körperliche Entwicklung und Leistungsfähigkeit der Jungen und Männer mit dem Klinefelter-Syndrom aus, wobei nicht generell gesagt werden kann, welche Symptome sich in welcher Ausprägung bei einem Jungen bzw. Mann ausbilden. Generell handelt es sich um eine Keimdrüsenunterfunktion im Pubertätsalter.

Häufig beobachtet werden eine überdurchschnittliche Erwachsenengröße und ungewöhnlich lange Arme, Beine und häufig auch errötete bzw. verfaltete Ellenbogen. Im Kleinkindalter haben etwa 60 % der Jungen eine Muskelschwäche und eine Verzögerung der motorischen Entwicklung. Uncharakteristische Symptome wie Antriebsarmut, Kontaktarmut, geringes Selbstvertrauen, Stimmungsschwankungen bis hin zu Wutausbrüchen und sprachliche Entwicklungsstörungen im Verein mit schulischen Problemen sind hinweisend auf dieses Syndrom. Die äußere Genitalentwicklung verläuft in der Kindheit normal. Das Hodenvolumen vergrößert sich dem Alter entsprechend, und erst in der Mitte der Pubertät kommt es zur Verkleinerung der Hoden.

Die Männer besitzen vergleichsweise kleine Hoden mit verminderter Testosteronproduktion – das Klinefelter-Syndrom gilt als Hauptursache für Hypogonadismus[4] – bei üblicher Penisgröße, und es werden keine funktionstüchtigen Spermien (Azoospermie) produziert (bei Männern mit dem Mosaik-Typus ist in ganz seltenen Fällen Spermienbildung möglich). Die Betroffenen sind meist zeugungsunfähig. Das Sexualleben ist in der Regel nicht beeinträchtigt.

Oftmals besteht in der Spätpubertät eine Tendenz zur Ausbildung kleiner Brüste (Gynäkomastie, bei 30 % – 60 %), ein eher femininer Körperbau und ein reduzierter Bartwuchs. Der Hormonmangel kann ab Beginn der Pubertät (dem Alter von etwa elf Jahren) durch die Gabe von Hormonpräparaten (nach ärztlicher Beratung) ausgeglichen werden. Hormonpräparate stehen in Form von Spritzen, Tabletten, Pflaster oder Gel zur Verfügung. Durch die Testosteron-Gabe wird der Bartwuchs angeregt und die Jungen kommen in den Stimmbruch. Wird die Medikamentengabe später aus- oder abgesetzt, geht auch der Bartwuchs zurück, aber die tiefe Stimme bleibt.

Die Intelligenz bei Jungen bzw. Männern mit dem Klinefelter-Syndrom ist nach aktuellen Erkenntnissen nicht beeinträchtigt. In erster Linie sind es ihre lautsprachlichen Fähigkeiten (Verbal-IQ), die im Vergleich zu Gleichaltrigen oftmals unterdurchschnittlich sind und bei etwa 50 % der Kinder eine Förderung durch Logopädie notwendig machen, insbesondere in den Bereichen der Artikulation und in der Fähigkeit, Zusammenhänge wiederzugeben (Sprachverarbeitung).

Ursachen

Die chromosomale Ursache wurde 1959 erkannt: Man wies eine Chromosomenbesonderheit nach, bei der aufgrund einer zufälligen Nicht-Auseinanderweichung (Non-Disjunction) der Gonosomen (Geschlechtschromosomen) während der Gametogenese zusätzlich zum üblichen männlichen Chromosomensatz (46,XY) mindestens ein weiteres X-Chromosom in allen (Karyotyp 47, XXY) oder einem Teil der Körperzellen vorliegt (Karyotyp 46, XY/47, XXY / = Mosaik-Form / bei 6 %).

Häufigkeit

Das Klinefelter-Syndrom tritt bei etwa 1–2 von 1000 männlichen Neugeborenen auf.[5][6] In Deutschland leben etwa 80.000 Jungen bzw. Männer mit dem Klinefelter-Syndrom, jedoch wurden, so wird geschätzt, ca. 90 % von ihnen noch nicht erkannt.

Diagnose

Eine Verdachtsdiagnose ergibt sich aus der typischen Klinik. Die Diagnose wird durch eine zytogenetische Untersuchung gestellt. Das Durchschnittsalter der Kinder liegt zum Zeitpunkt der Diagnosestellung bei etwa fünf Jahren.

Weitere diagnostische Möglichkeiten bestehen in der Blutanalyse (typische Veränderungen (s.o.) in FSH & LH, SHBG, Estradiol, Testosteron) und in der Hodenzytologie, die eine hyalinisierende Fibrose der Hodenkanälchen und eine relative Hyperplasie der Leydig-Zellen zeigt. Auch ein Spermiogramm kann Teil der Diagnose sein (Azoospermie, selten Oligospermie).[7] Die Differentialdiagnose zum Pseudo-Klinefelter-Syndrom ist nötig. Zur Klinefelter-Gruppe gehören auch die Polysomien, bei denen Menschen z.B. einen Karyotyp XXXY oder XXXXY haben.

Das Klinefelter-Syndrom wird in 10 % pränatal und in 26 % in der Kindheit und im Erwachsenenalter gestellt. 64 % der Betroffenen bleiben unentdeckt.[7]

Siehe auch

Literatur

  • Visootsak J, Graham JM Jr: Klinefelter syndrome and other sex chromosomal aneuploidies. Orphanet J Rare Dis. 2006 Oct 24;1:42. PMID 17062147
  • Klinefelter-Syndrom – Fragen und Antworten für Österreich. 2005, ISBN 3-9805545-5-4
  • Klinefelter-Syndrom – Fragen und Antworten. 2003, ISBN 3-9805545-2-X
  • Klaus Sarimskt: Entwicklungspsychologie genetischer Syndrome. 2003, ISBN 3-8017-1764-X
  • F. Jockenhövel (Hrsg.): Männlicher Hypogonadismus – Aktuelle Aspekte der Androgensubstitution. 2003, ISBN 3-89599-691-2

Einzelnachweise

  1. Nomenklatur für den menschlichen Chromosomensatz
  2. Harry F. Klinefelter Jr., Edward C. Reifenstein Jr., Fuller Albright Jr.: Syndrome characterized by gynecomastia, aspermatogenesis without a-Leydigism and increased excretion of follicle-stimulating hormone. In: The Journal of Clinical Endocrinology & Metabolism. 2, Nr. 11, 1942, S. 615–624. doi:10.1210/jcem-2-11-615
  3. Harry F. Klinefelter Jr.: Klinefelter syndrome: historical background and development. In: Southern Medical Journal. 79, Nr. 9, 1986, S. 1089–1093. doi:10.1097/00007611-198609000-00012
  4. Juliane Matlach, Franz Grehn, Thomas Klink: Klinefelter Syndrome Associated With Goniodysgenesis. In: Journal of Glaucoma, Januar 2012. doi:10.1097/IJG.0b013e31824477ef
  5. Anders Bojesen, Svend Juul und Claus Højbjerg Gravholt: Prenatal and postnatal prevalence of Klinefelter syndrome: a national registry study. In: The Journal of Clinical Endocrinology & Metabolism. 88, Nr. 2, 2003, S. 622-626. doi:10.1210/jc.2002-021491
  6. Jeannie Visootsak, Melissa Aylstock und John M Graham Jr.: Klinefelter syndrome and its variants: an update and review for the primary pediatrician. In: Clinical pediatrics. 40, Nr. 12, 2001, S. 639-651. PMID 11771918
  7. 7,0 7,1 Das Klinefelter-Syndrom: Berücksichtigung in der ärztlichen Praxis und Literatur: http://miami.uni-muenster.de/servlets/DerivateServlet/Derivate-3892/diss_bade.pdf; Abgerufen am 20. Januar 2011