Sultiam


Strukturformel
Strukturformel von Sultiam
Allgemeines
Freiname Sultiam
Andere Namen

2-(4-Sulfamoylphenyl)-1,2-thiazinan-1,1-dioxid

Summenformel C10H14N2O4S2
Externe Identifikatoren/Datenbanken
CAS-Nummer 61-56-3
PubChem 5356
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Arzneistoffangaben
ATC-Code

N03AX03

Wirkstoffklasse

Antiepileptikum

Eigenschaften
Molare Masse 290,36 g·mol−1
Sicherheitshinweise
GHS-Gefahrstoffkennzeichnung
keine Einstufung verfügbar[1]
Soweit möglich und gebräuchlich, werden SI-Einheiten verwendet. Wenn nicht anders vermerkt, gelten die angegebenen Daten bei Standardbedingungen.

Sultiam (Handelsname: Ospolot®; Hersteller: Desitin) ist ein Arzneistoff aus der Gruppe der Sulfonamide, der in der Behandlung von bestimmten Epilepsieformen eingesetzt wird. Pharmakologisch gehört es zu den Carboanhydrasehemmern. Die Hemmung des Enzyms Carboanhydrase bewirkt eine Gewebsübersäuerung, die wiederum die Erregbarkeit von Nervenzellen vermindern kann. Sultiam ist eines der älteren Antikonvulsiva und wurde erst ab Ende der 1980er Jahre „wiederentdeckt“.

Klinische Angaben

Zugelassene Anwendungsgebiete (Indikationen)

Sultiam wird vorwiegend bei der Rolando-Epilepsie eingesetzt. Die Rolando-Epilepsie wird auch als benigne Epilepsie des Kindesalters mit zentrotemporalen Spikes bezeichnet. In Deutschland ist Sultiam nur zur Alternativ-Behandlung der Rolando-Epilepsie zugelassen, d. h. wenn die Behandlung mit anderen Antiepileptika erfolglos war. In der Schweiz besteht diese Einschränkung nicht.

Weitere mögliche Anwendungsgebiete

Sultiam wird auch häufig bei anderen Epilepsieformen des Kindesalters eingesetzt, die ähnliche EEG-Veränderungen wie die Rolando-Epilepsie aufweisen, zum Beispiel beim Pseudo-Lennox-Syndrom oder beim Landau-Kleffner-Syndrom.[2][3]

Unlängst wurden auch Daten zur Anwendung beim West-Syndrom[4] sowie bei anderen schwer zu behandelnden herdförmigen Epilepsien[5] publiziert. Weiterhin wird Sultiam zur Behandlung der Krampfkomponente beim Rett-Syndrom eingesetzt.[6]

Gegenanzeigen (Kontraindikationen)

Sultiam darf nicht angewendet werden bei:

Sultiam sollte nicht oder nur mit besonderer Vorsicht eingesetzt werden:

  • bei Vorliegen einer Nierenfunktionsstörung
  • bei vorbestehenden psychiatrischen Erkrankungen
  • bei Frauen im gebärfähigen Alter und Mädchen älter als 12 Jahre
  • bei Schwangerschaft oder Stillzeit.

Achtung: die Gegenanzeigen unterscheiden sich Deutschland und der Schweiz.

Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten

Bei Kombination von Sultiam mit Phenytoin kann der Phenytoin-Blutspiegel stark ansteigen. In Einzelfällen kam es zu einer Erhöhung der Blutspiegels von Lamotrigin. Bei einer Kombination von Sultiam mit Primidon können die Sultiam-Nebenwirkungen zunehmen (insbesondere bei Kindern). Es gibt Hinweise darauf, dass die Blutkonzentration von Sultiam bei gleichzeitiger Einnahme von Carbamazepin vermindert wird. Die gleichzeitige Einnahme von Sultiam und anderen Carboanhydrasehemmern (z. B. Topiramat, Acetazolamid oder Zonisamid) kann die Nebenwirkungen der Carboanhydrase-Hemmung verstärken. Während der Sultiam-Behandlung sollte auf den Genuss von Alkohol verzichtet werden, da Sulfonamide eine Disulfiram-ähnliche Wirkung besitzen und zusammen mit Alkohol eine unangenehme Reaktion ausgelöst werden könnte.

Anwendung während Schwangerschaft und Stillzeit

Es gibt experimentelle Hinweise auf embryotoxische Effekte. Es ist davon auszugehen, dass Sultiam die Placentaschranke überschreiten und in die Muttermilch übergehen kann. Es kann somit in den Fötus sowie in den gestillten Säugling übergehen. Sultiam darf während der Schwangerschaft und in der Stillzeit nicht angewendet werden, da dafür keine ausreichenden Untersuchungen zur Sicherheit vorliegen.

Unerwünschte Wirkungen (Nebenwirkungen)

Magenbeschwerden können häufig (1–10 %) bis sehr häufig (≥ 10 %) auftreten. Missempfindungen (Parästhesien) in den Gliedern und im Gesicht sowie Atembeschwerden, Schwindel, Kopfschmerzen, Herzbeschwerden, Doppelbilder, Schluckauf, Gewichtsverlust oder Appetitlosigkeit können auch häufig auftreten. Gelegentlich (0,1–1 %) kommt es zu Halluzinationen, Angst, Muskelschwäche, Antriebsarmut, Gelenkschmerzen, einem Status epilepticus oder zu Anfallshäufung. In Einzelfällen besteht der Verdacht, dass Sultiam mit der Auslösung eines akuten Nierenversagens, eines Stevens-Johnson-Syndroms, eines Lyell-Syndroms oder einer Polyneuritis im Zusammenhang stehen könnte. Sultiam ist ein Carboanhydrasehemmer. Daher sind Nebenwirkungen der Carboanhydrase-Hemmung, wie Nierensteine, Übersäuerung und Veränderungen von Blutwerten nicht auszuschließen

Pharmakologische Eigenschaften

Wirkungsmechanismus (Pharmakodynamik)

Sultiam ist ein Sulfonamid-Derivat, besitzt jedoch im Gegensatz zu anderen Sulfonamiden keine antibiotische Wirkung. Strukturell bestehen keine Gemeinsamkeiten mit anderen Antikonvulsiva. Der Wirkmechanismus ist nicht vollständig bekannt. Ein wesentlicher biologische Effekt ist die Hemmung der Carboanhydrase des Gehirns: eine Gewebsübersäuerung im Gehirn setzt die Erregbarkeit von Nervenzellen herab. Weiterhin wurden Wirkungen auf erregende und hemmende Botenstoffe im Nervensystem beschrieben. Sultiam reduziert ebenfalls den Natriumeinstrom in die Nervenzelle und setzt so die Erregbarkeit der Nervenzelle herab.[7] Der Arzneistoff zeigte eine gute Wirksamkeit im Elektrokrampftest (Ratte und Maus) und im Krampftest mit Pentamethylentetrazol (Maus).[8]

Aufnahme und Verteilung im Körper (Pharmakokinetik)

Die Pharmakokinetik von Sultiam wurde bislang nicht systematisch untersucht. Maximale Plasmakonzentrationen werden nach ein bis fünf Stunden gemessen. Die Halbwertszeit beträgt 2 bis 16 Stunden und kann durch eine Kombinationsbehandlung mit anderen Antikonvulsiva verkürzt werden. Die Kinetik ist linear. Im Plasma ist der Wirkstoff zu etwa 29 % an Proteine gebunden. Die empfohlenen Blutspiegel bei der Behandlung der Rolando-Epilepsie liegen bei 1–3 µg/ml.[9]

Bioverfügbarkeit

Nach oraler Gabe wird Sultiam rasch und vollständig, bevorzugt aus dem oberen Dünndarmabschnitt resorbiert. Der Nahrungseinfluss auf die Aufnahme von Sultiam wurde bislang nicht untersucht.

Metabolismus

Bislang wurden zwei Abbauprodukte von Sultiam identifiziert. Davon ist hydroxyliertes Sultiam mengenmäßig das wichtigste Abbauprodukt. Es besitzt keine antikonvulsive Eigenschaften. Nach oraler Gabe werden circa 80–90 % der Dosis über die Nieren ausgeschieden. Etwa 30–60 % werden unverändert ausgeschieden. Mehr als 25 % werden als Abbauprodukt (hydroxyliertes Sultiam) ausgeschieden.

Toxikologie

Sultiam hat eine geringe akute Toxizität. Die orale LD50 für Ratte und Maus liegt über 5000 mg/kg Körpergewicht und für das Kaninchen bei etwa 1000 mg/kg. Bei intraperitonealer Gabe lag die LD50 für die Maus bei ca. 1700 mg/kg.[10]

Bei Überdosierung werden zumeist Kopfschmerzen, Schwindel, Ataxie, Bewusstseinsstörung, Katatonie, Azidose und Sultiamkristalle im Urin beobachtet. Überdosierungen mit vier bis fünf Gramm Sultiam wurden überlebt.[11][12] Die Einnahme von ca. 20 g Sultiam in suizidaler Absicht bei Erwachsenen führte in einem Fall zum Tod.[13] In zwei anderen Fällen kam es bei vergleichbarer Überdosis zur vollständigen Wiederherstellung.[14][15] Es existiert kein spezifisches Antidot.

Sonstige Informationen

Geschichte

Sultiam wurde in den 1950er Jahren bei Bayer synthetisiert und 1960 als Ospolot® in Europa und anderen Ländern in den Handel gebracht. Nach Einführung im Jahre 1960 wurde Sultiam als Mittel der zweiten Wahl zur Behandlung von Epilepsien mit Herdanfällen genutzt und oft zusammen mit dem etablierten Antikonvulsivum Phenytoin eingesetzt. Hansen et al. beschrieben 1968 erstmals, dass die Phenytoin-Blutspiegel bei einer kombinierten Behandlung mit Sultiam erheblich anstiegen.[16] Diese Ergebnisse führten zu der Annahme, dass Sultiam keine eigenständige antikonvulsiven Wirkung besitzt und nur über die Erhöhung der Phenytoinspiegel wirke. Nach Veröffentlichung einer negativen Vergleichstudie gegen Phenytoin[17] ging der Einsatz von Sultiam schnell zurück. Erst 1988 entdeckte der deutsche Kinderneurologe Hermann Doose die spezifische Wirkung des Arzneistoffs bei Kindern mit Rolando-Epilepsie.[18] Diese Entdeckung wurde später in einer kontrollierten Studie bestätigt.[19] Trotz der o. a. Einschränkung der behördlichen Zulassung in Deutschland gilt Sultiam heute im deutschen Sprachraum und in Israel als Mittel der ersten Wahl bei Rolando-Epilepsien.[20]

Die Zulassungen wurden 1993 an Desitin übertragen. Sultiam wird heute in einigen europäischen Ländern sowie in Israel, Japan, und Australien vertrieben.

Handelsnamen und Darreichungsformen

Wichtiger Hinweis: Handelsnamen und Darreichungsformen von Arzneistoffen unterliegen keiner Standardisierung. Sie können sich daher in einzelnen Ländern unterscheiden.
  • Ospolot® 200 mg Filmtabletten
  • Ospolot® 50 mg Filmtabletten

Der Vertrieb in Deutschland und der Schweiz erfolgt durch Desitin und in Österreich durch AOP Orphan Pharmaceuticals AG

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Dieser Stoff wurde in Bezug auf seine Gefährlichkeit entweder noch nicht eingestuft oder eine verlässliche und zitierfähige Quelle hierzu wurde noch nicht gefunden.
  2. Gross-Selbeck G. Treatment of "benign" partial epilepsies of childhood, including atypical forms. Neuropediatrics. 1995;26:45-50, PMID 7791951.
  3. Stephani U, Carlsson G. The spectrum from BCECTS to LKS: The Rolandic EEG Trait - Impact on Cognition. Epilepsia 2006;47 Suppl 2:67-70, PMID 17105466.
  4. Debus OM, Kurlemann G. Sulthiame in the primary therapy of West syndrome. Epilepsia 2004;45:103-8, PMID 14738417.
  5. Koepp MJ Patsalos PN, Sander JW. Sulthiame in adults with refractory epilepsy and learning disability: an open trial. Epilepsy Res 2002;50:277-82, PMID 12200218.
  6. Huppke P, Kohler K, Brockmann K et al. Treatment of epilepsy in Rett syndrome. Eur J Paediatr Neurol 2007;11:10-6, PMID 17178248.
  7. Madeja M, Wolf C, Speckmann EJ. Reduction of voltage-operated sodium currents by the anticonvulsant drug sulthiame. Brain Res 2001;900:88-94, PMID 11325350.
  8. Wirth W, Hoffmeister F, Friebel H, Sommer S. Zur Pharmakologie des N-(4'-sulfamylphenyl)-butansultam-(1,4). Dt Med Wschr 1960;50:2195-9.
  9. Doose H. Typische Rolandische Epilepsie. In: Königsteiner Arbeitskreis: Standardtherapien der Epilepsien im Kindes- und Jugendalter. Epilepsie-Blätter 1992;5:53-4.
  10. Registry of Toxic Effects of Chemical Substances (7 ed). US Dept of Health, Education, and Welfare. Cincinnati (1977).
  11. Stockdill G, Lorimer AR. Sulthiame Overdosage. Br J Clin Pract 1971;25:33, PMID 4397483.
  12. Rockley GJ. Attempted suicide with sulthiame. Brit med J 1965;2:632, PMID 14331626.
  13. Ahrend KF, Nagy L, Tiess D. Zur Morphologie und Analytik der Sultiam-Intoxikation. Arch Toxikol 1969;25:229-37, PMID 4393635.
  14. Mykyta LJ. A case of sulthiame overdosage. Med J Austr 1968;20:118-9, PMID 4386132.
  15. Hruby K, Donner A, Jäger U. Akute Selbstvergiftungen mit Antiepileptika. Intensivmedizin 1985;22:168-71.
  16. Hansen JM, Kristensen M, Skovsted L. Sulthiame (Ospolot) as inhibitor of diphenylhydantoin metabolism. Epilepsia 1968;9:17-22, PMID 4386877.
  17. Green JR, Troupin AS, Halperm LM et al. Sulthiame: Evaluation as an anticonvulsant. Epilepsia 1974;15:329-49, PMID 4153094.
  18. Doose H, Baier WK, Ernst JP et al. Benign partial epilepsy - treatment with sulthiame. Dev Med Child Neurol 1988;30:683-4, PMID 2906619.
  19. Rating D, Wolf C, Bast T. Sulthiame as monotherapy in children with benign childhood epilepsy with centrotemporal spikes: a 6-month randomized, double-blind, placebo-controlled study. Epilepsia 2000;41:1284-8. PMID 11051123
  20. Wohlrab G. Epilepsiebehandlung im Kindes- und Jugendalter: Kontinuität und Wandel. Epileptologie 2003; 20:25-30.