Evolutionäre Ursprünge des Appetits



Bio-News vom 25.05.2024

Kieler Forschungsteam zeigt am Beispiel des Süßwasserpolypen Hydra, wie schon Lebewesen mit sehr einfachen Nervensystemen die komplexe Koordination des Sättigungsgefühls und damit zusammenhängende Verhaltensweisen regulieren

Im Laufe der Evolution haben Lebewesen Stück für Stück komplexere Nervensysteme hervorgebracht, um immer vielschichtigere sensorische, motorische und kognitive Funktionen zu koordinieren und die mit ihnen zusammenhängenden Verhalten zu steuern. In jüngerer Zeit haben verschiedene Forschungsarbeiten gezeigt, dass schon einfache Lebewesen mit diffusen Nervensystemen komplexe neuronale Verhalten zeigen können, zum Beispiel die Verarbeitung visueller Signale oder auch sogenanntes assoziiertes Lernen.


Publikation:


Christoph Giez, Christopher Noack, Ehsan Sakib, Lisa-Marie Hofacker, Urska Repnik, Marc Bramkamp, Thomas Bosch
Satiety controls behavior in Hydra through an interplay of pre-enteric and central nervous system-like neuron populations

Cell Reports (2024)

DOI: 10.1016/j.celrep.2024.114210



Forschende aus der Arbeitsgruppe Zell- und Entwicklungsbiologie am Zoologischen Institut der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) beschäftigen sich mit einem solchen einfachen Vielzeller, dem Süßwasserpolypen Hydra.

In vorgegangenen Forschungsarbeiten konnte das Forschungsteam vom Sonderforschungsbereich (SFB) 1182 „Entstehen und Funktionieren von Metaorganismen“ um Professor Thomas Bosch bereits erste Zusammenhänge zwischen dem Fressverhalten von Hydra und den beteiligten Neuronen herausarbeiten. Es gelang den Forschenden dabei, bestimmte Nervenpopulationen des Süßwasserpolypen zu identifizieren, die unter anderem die Mundöffnung der Tiere steuern. Dabei beobachteten sie, dass satte Tiere anders auf Nahrungsreize reagierten als hungrige und auch eine reduzierte Fortbewegung nach der Nahrungsaufnahme zeigten.


Die SFB 1182-Forschenden fanden heraus, dass Hydra über zwei bestimmte, indirekt miteinander verbundene Nervenpopulation (blau und gelb gefärbt) verfügt, deren Aktivität sich in Abhängigkeit vom Sättigungsgefühl verändert.

In einem nächsten Schritt wollten die Forschenden nun herausfinden, wie die Tiere einen so komplexen metabolischen Zustand wie das Sättigungsgefühl integrieren und dann das Verhalten ändern. In einer nun veröffentlichten Forschungsarbeit konnten sie nachweisen, dass das Nervensystem von Hydra den inneren metabolisch Zustand tatsächlich 'messen' kann: Sie fanden heraus, dass Hydra über zwei bestimmte, indirekt miteinander verbundene Nervenpopulation verfügt, deren Aktivität sich in Abhängigkeit vom Sättigungsgefühl verändert. Ähnlich wie bei den komplexeren Wirbeltieren ist eine Nervenpopulation verantwortlich für die Verdauung, und eine andere für die Integration des Sättigungszustandes und Veränderung des Verhaltens. Damit zeichnen sich hier möglicherweise frühe Anzeichen für eine Zentralisierung des Nervensystems ab. Seine neuen Ergebnisse veröffentlichte das Kieler Forschungsteam, das auch im Sonderforschungsbereich 1461 „Neurotronics“ aktiv ist, heute in der wissenschaftlichen Fachzeitschrift Cell Reports.

Sättigungsgefühl bei Hydra beeinflusst das Fressverhalten und weitere Verhaltensweisen

Zunächst untersuchten die Forschenden, welchen direkten Einfluss die Fütterung auf die Nahrungsaufnahme von Hydra hatte. Tiere, die mit ihrer natürlichen Nahrung gefüttert wurden, zeigten bis zu acht Stunden danach eine eingeschränkte Reaktion auf Futterreize und öffneten ihre Mundöffnung signifikant langsamer bis überhaupt nicht.

In zusätzlichen Versuchen konnte das Forschungsteam weitere Verhaltensänderungen beobachten, die indirekt mit der Nahrungsaufnahme zusammenhängen. „So zeigten gefütterte Hydren eine deutlich geringere Anziehung durch Lichtreize und eine ebenso starke Unterdrückung der natürlichen Bewegungsmuster im satten Zustand. Hydra bewegt sich auf der Suche nach Nahrung auf das Licht zu und vollzieht dabei eine Purzelbaum-artige Fortbewegungsweise. Das Sättigungsgefühl hemmt auch diese Verhaltensmuster, denn satte Tiere müssen sich vorübergehend nicht auf Nahrungssuche begeben“, fasst Dr. Christoph Giez, wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Arbeitsgruppe Zell- und Entwicklungsbiologie, zusammen.

Aktivität der Nervenzellen vom internen metabolischen Zustand abhängig

Im nächsten Schritt gingen die Kieler Forschenden der Frage nach, wie die neuronale Steuerung dieses umfangreichen Verhaltensrepertoires abläuft und ob das „Messen“ des metabolischen Zustands sich in der Aktivität bestimmter Nervenzellen nachweisen lässt. „Eine bestimmte Nervenpopulation in der äußeren Gewebeschicht zeigt eine erhöhte Frequenz bei Fütterung, unabhängig davon, ob sich noch Nahrung in der Körperhöhle befindet oder nicht. Diese Aktivität nimmt über die Zeit wieder ab, bis das Tier wieder ein normales Fressverhalten zeigen kann“, so Giez. Die Aktivität einer anderen Nervenpopulation in der inneren Gewebeschicht der Tiere wird davon bestimmt, ob Nahrung im Verdauungstrakt der Tiere vorhanden ist oder nicht. Ihre Aktivierung scheint von einer mechanischen Stimulierung durch die Nahrungsbestandteile abhängig zu sein.

Um einen Zusammenhang der Aktivität dieser beiden Nervenpopulationen im sogenannten Endo- und Ektoderm und den von der Sättigung der Tiere abhängigen Verhalten zu untersuchen, unternahmen die Forschenden weitere funktionale Experimente: Wenn sie die Neuronen im Ektoderm experimentell entfernten, verlorenen die Tiere die Fähigkeit zur Fortbewegung und Orientierung zum Licht. Die endodermalen Nervenzellen hingegen hängen direkt mit der Nahrungsaufnahme und -ausscheidung zusammen. „Daraus konnten wir ableiten, dass die ektodermale Population hauptsächlich für die Fortbewegung verantwortlich und für die Integration von Reizen zuständig ist“, sagt Giez. „Mit dem Nachweis dieser Subfunktionalisierung von Neuronen in einem simplen System konnten wir zeigen, dass bestimmte Nervenpopulationen in Hydra bereits zentrale Funktion ähnlich wie in komplexeren Nervensystemen übernehmen können“, so Giez weiter.

Am Fressverhalten beteiligte Nervenpopulationen schütten hemmende Neuropeptide aus

Abschließend untersuchte das Forschungsteam, ob bestimmte mit dem Fressverhalten zusammenhängende Peptide oder Neurotransmitter bei hungrigen und satten Hydren unterschiedlich stark produziert werden. „Dabei haben wir festgestellt, dass ein bestimmtes Neuropeptid bei satten Tieren deutlich herunterreguliert ist. Von diesem Botenstoff war bereits bekannt, dass er auch an der Steuerung der Purzelbaum-artigen Fortbewegung der Tiere beteiligt ist und eine Funktion bei den Verdauungs-Gewebekontraktionen der Tiere hat“, betont Giez. Möglicherweise spiele dieses Peptid, dass nur von den am Fressverhalten beteiligten Nervenpopulationen produziert wird, eine wichtige Rolle in der Appetitregulierung bei Hydra, indem es an einer indirekten Kommunikation zwischen den inneren und äußeren Nervenpopulationen beteiligt ist.

Insgesamt gelang es den Forschenden vom SFB 1182 damit, die neuronale Regulation des Sättigungsgefühls bei Hydra hauptsächlich auf zwei Nervenpopulationen und ihre Auswirkungen auf ein ganzes Spektrum von fütterungsbezogenen Verhaltensmustern zurückzuführen. „Damit konnten wir belegen, dass ein ganz einfaches System wie das diffuse Nervennetz des Süßwasserpolypen bereits in der Lage ist, etwas so Komplexes wie den internen metabolischen Zustand des Tieres zu erkennen und darauf aufbauend das Verhalten zu regulieren. Anhand dieser Beobachtungen können wir künftig mehr darüber erfahren, wie diese Modulation in komplexeren Lebewesen funktioniert und so Stück für Stück mehr über die evolutionären Ursprünge des Hungergefühls und seine Weiterentwicklung lernen“, fasst der Leiter der Arbeitsgruppe, Professor Thomas Bosch, zusammen.


Diese Newsmeldung wurde mit Material der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel via Informationsdienst Wissenschaft erstellt.


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