Pikrinsäure


Strukturformel
Struktur von Pikrinsäure
Allgemeines
Name Pikrinsäure
Andere Namen
  • 2,4,6-Trinitrophenol
  • Trinitrophenol
  • TNP
  • Weltersches Bitter[1]
Summenformel C6H3N3O7
Kurzbeschreibung

farblose bis leicht gelbe blatt- oder prismaförmige Kristalle[2]

Externe Identifikatoren/Datenbanken
CAS-Nummer 88-89-1
PubChem 6954
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Eigenschaften
Molare Masse 229,11 g·mol−1
Aggregatzustand

fest

Dichte

1,76 g·cm−3[3]

Schmelzpunkt
  • 122 °C (Polymorph I)[3][4][5]
  • 105 °C (Polymorph II)[5]
  • 75 °C (Polymorph III)[5]
pKS-Wert

0,29[4]

Löslichkeit

gut in Ethanol (80 g·l−1 bei 20 °C), Benzol,
schlecht in Wasser (14 g·l−1 bei 20 °C[3], 60 g·l−1 bei 100 °C)

Sicherheitshinweise
GHS-Gefahrstoffkennzeichnung [3]
Gefahrensymbol Gefahrensymbol

Gefahr

H- und P-Sätze H: 201​‐​331​‐​311​‐​301
P: 210​‐​280​‐​301+310​‐​312 [6]
Soweit möglich und gebräuchlich, werden SI-Einheiten verwendet. Wenn nicht anders vermerkt, gelten die angegebenen Daten bei Standardbedingungen.

Pikrinsäure (gr. πικρος, pikros = bitter) ist der Trivialname für 2,4,6-Trinitrophenol (TNP). Die Struktur besteht aus einem Benzolring mit einer Hydroxygruppe (–OH) und drei Nitrogruppen (–NO2) als Substituenten. Es gehört zur Stoffgruppe der Trinitrophenole, einer Gruppe von sechs Konstitutionsisomeren. Ihre Salze heißen Pikrate.

Geschichte

Pikrinsäure (Historische Farbstoffsammlung der TU Dresden)

Durch Behandlung von Indigo mit Salpetersäure konnte Peter Woulfe als erster 1771 Pikrinsäure darstellen. Neben der Gelbfärbung von Seide hatte sie jedoch zunächst noch keine größere Bedeutung.[7]

Die Substanz war das erste detonierende, brisante Geschoss-Füllmittel und wurde als Lyddit, Ekrasit, Schimose oder Melinit ab 1886 so verwendet, nachdem der Franzose Eugène Turpin die Sprengstoffeigenschaften der lange zuvor bekannten Säure entdeckt hatte.[7]

1864 verfasste der deutsche Arzt Wilhelm Erb eine Arbeit über Physiologische und therapeutische Wirkungen der Pikrin-Säure. 1865 habilitierte er sich auch mit einer Arbeit zu dieser Thematik.[8]

Für die katastrophale Halifax-Explosion im Jahr 1917 waren 2.300 Tonnen Pikrinsäure verantwortlich.[9]

Die Verwendung von Pikrinsäure zur Anfärbung von Backwaren im ausgehenden 19. Jahrhundert war weit verbreitet und war als Weltersches Bitter[1] bekannt, was nach einer Häufung von Vergiftungsfällen jedoch unterbunden wurde.

Darstellung und Gewinnung

Die Pikrinsäure wird über die Sulfonierung von Phenol und nachfolgende Behandlung mit Salpetersäure hergestellt.[7] Alternativ bietet sich die Darstellung aus Chlorbenzol über 2,4-Dinitrochlorbenzol, 2,4-Dinitrophenol und dessen erneute Nitrierung an.[10] Eine direkte Herstellung der Substanz gelingt durch die Oxynitrierung von Benzol durch konzentrierte Salpetersäure in Gegenwart von Quecksilber(II)-nitrat.[7] Früher wurde Pikrinsäure auch aus Akaroidharz hergestellt.

Eigenschaften

Pikrinsäure bildet farblose bis leicht gelbe, stark bitter schmeckende Kristalle, die nur schwer in kaltem Wasser, hingegen besser löslich in siedendem Wasser und leicht löslich in Ethanol und Benzol sind. Bedingt durch die Häufung elektronenziehender Nitrogruppen (–NO2) ist die Pikrinsäure durch ihre phenolische Hydroxygruppe eine starke Säure (pKs = 0,29). Daher bildet sie zahlreiche Salze mit anorganischen und organischen Basen. Die Salze werden Pikrate genannt. So entsteht mit Ammoniak das Ammoniumpikrat.

Als starke Säure greift wässrige Pikrinsäure unedle Metalle unter Pikratbildung an.

An der Luft verbrennt Pikrinsäure mit starker Rauchentwicklung; bei sehr raschem Erhitzen oder durch eine Initialzündung erfolgt eine Detonation. Pikrinsäure ist empfindlich gegen thermische (Hitze, Feuer) und mechanische (Schlag, Reibung) Belastung und gilt im Sinne des Sprengstoffgesetzes als explosionsgefährlicher Stoff. Für den Versand zur Verwendung als Laborchemikalie (siehe unten) wird die kristallisierte Säure durch Zugabe von etwas Wasser stabilisiert („phlegmatisiert“).

Tabelle mit wichtigen explosionsrelevanten Eigenschaften:
Bildungsenergie −865,9 kJ·kg−1[11]
Bildungsenthalpie −936,2 kJ·kg−1[11]
Sauerstoffbilanz −45,4 %[11]
Stickstoffgehalt 18,34 %[11]
Normalgasvolumen 881 l·kg−1[11]
Explosionswärme 3546 kJ·kg−1 (H2O (l))
3465 kJ·kg−1 (H2O (g))[11]
Spezifische Energie 1033 kJ·kg−1 (105,3 mt/kg)[11]
Bleiblockausbauchung 315 cm3[11]
Detonationsgeschwindigkeit 7350 m·s−1
Stahlhülsentest Grenzdurchmesser 4 mm[11]
Schlagempfindlichkeit 7,4 Nm[11]
Reibempfindlichkeit bis 353 N keine Reaktion[11]

Einige der Salze z. B. Bleipikrat sind extrem empfindlich gegenüber Schlag, Reibung und Funken. Sie verhalten sich somit wie Initialsprengstoffe. Ammoniumpikrat wurde als Sprengstoff verwendet.

Ebenfalls als Pikrate bezeichnet man die Charge-Transfer-Komplexe, die Pikrinsäure mit Aromaten bildet. Diese Feststoffe sind oft schwerlöslich und farbig. Wegen der charakteristischen und scharfen Schmelzpunkte (z. B. Benzol-Pikrat 84 °C[4], Toluol-Pikrat 88 °C[4], Anthracen-Pikrat 138 °C[4]) wurde Pikrinsäure vor allem früher als Nachweisreagenz für Aromaten verwendet.

Pikrinsäure ist giftig. Auf der Haut kann sie starke allergische Reaktionen hervorrufen. Die Kontamination mit Stäuben oder Dämpfen ist daher zu vermeiden.

Verwendung

Primär dient die Pikrinsäure der Farbstoffindustrie zur Herstellung von 2-Amino-4,6-dinitrophenol (Pikraminsäure). Sie wurde früher zusammen mit arabischem Gummi und destilliertem Wasser zur Herstellung gelber Tinte verwendet. Ein weiteres Einsatzgebiet ist die organische Analytik zum Nachweis von Aminen, Alkaloiden und Kreatinin. Diese basischen Stoffe bilden gelbe Salze, welche durch ihren Schmelzpunkt charakterisiert wurden (Derivat-Bildung).

Die Verwendung von Pikrinsäure als Füllmaterial für Granaten (wie im Ersten Weltkrieg) wurde wegen der unkontrollierten Bildung von sehr stoßempfindlichen Schwermetallpikraten eingestellt. Die Pikrinsäure wurde hier durch TNT ersetzt. In der Mikroskopie verwendet man Pikrinsäure als Bestandteil von Fixierflüssigkeiten (zur Konservierung zellulärer Strukturen) und zum Anfärben von Präparaten. Ein weiteres Einsatzgebiet von Pikrinsäure ist die Metallografie. Hier wird die Substanz zum Ätzen metallischer Oberflächen verwendet, z. B. bei der Präparation von Magnesiumlegierungen oder bei Seigerungsuntersuchungen an Stählen. Die Ätzung der Stähle wird mit Igeweskys-Reagenz, einer 5-%igen Lösung von Pikrinsäure in wasserfreiem Alkohol, durchgeführt. Pikrinsäure dient auch der Kreatinin-Konzentrationsmessung: Kreatinin bildet in alkalischer Lösung mit Pikrinsäure einen Meisenheimer-Komplex (Jaffé-Reaktion), dessen rote Farbe photometrisch gemessen wird.

Rechtliches

Pikrinsäure ist im Sinne des Sprengstoffgesetzes als explosionsgefährlicher Stoff der Stoffgruppe A (trocken) bzw. C (mit 25 % Wasser angefeuchtet) gemäß § 1 Abs. 3 Sprengstoffgesetz eingestuft.[12] Für Privatpersonen ist trockene Pikrinsäure somit nach § 27 SprengG erlaubnispflichtig. Trocken ist Pikrinsäure in Lagergruppe 1.1 oder I bzw. als Gefahrgut in Klasse 1.1 (Stoffe, die massenexplosionsfähig sind) eingestuft,[3] angefeuchtet mit 30 % Wasser in Lagergruppe 1.4.[13]

Als handelsübliches Produkt ist Pikrinsäure mit > 30 % Wasser angefeuchtet und damit phlegmatisiert.[3] Angefeuchtet (> 30 % Wasser) verhält sich Pikrinsäure wie ein entzündlicher Feststoff und wird zum Transport als Entzündbarer fester Stoff der Gefahrgutklasse 4.1 nach ADR gekennzeichnet.[14]

Einzelnachweise

  1. 1,0 1,1 Weltersches Bitter im Brockhaus' Kleines Konversations-Lexikon, 5. Auflage, Band 2. Leipzig 1911., S. 970.
  2. A. Bernthsen: Kurzes Lehrbuch der organischen Chemie, Friedr. Vieweg & Sohn, Braunschweig 1914.
  3. 3,0 3,1 3,2 3,3 3,4 3,5 3,6 Eintrag zu CAS-Nr. 88-89-1 in der GESTIS-Stoffdatenbank des IFA (JavaScript erforderlich).
  4. 4,0 4,1 4,2 4,3 4,4 CRC Handbook of Tables for Organic Compound Identification, Third Edition, 1984, ISBN 0-8493-0303-6.
  5. 5,0 5,1 5,2 A. Koffler; M. Brandstätter: Zur isomorphen Vertretbarkeit von H, OH, Cl: s-Trinitrobenzol, Pikrinsäure, Pikrylchlorid, in: Monatshefte Chem., 1948, 78, S. 65–70; doi:10.1007/BF00942489.
  6. Datenblatt Picric acid bei Sigma-Aldrich (PDF).Vorlage:Sigma-Aldrich/Abruf nicht angegeben
  7. 7,0 7,1 7,2 7,3 Thieme Römpp Online, abgerufen am 25. Januar 2012.
  8. W. Erb: Die physiologischen und therapeutischen Wirkungen der Pikrinsäure, in: Archiv Pharm., 1867, 181, S. 123–124, doi:10.1002/ardp.18671810180.
  9. Jay White, "Exploding Myths: The Halifax Explosion in Historical Context", Ground Zero: A Reassessment of the 1917 explosion in Halifax Alan Ruffman and Colin D. Howell editors, Nimbus Publishing (1994), S. 266.
  10. Hans Beyer und Wolfgang Walter: Organische Chemie, 22. Auflage, S. Hirzel Verlag, Stuttgart 1984, ISBN 3-7776-0485-2, S. 504–505.
  11. 11,00 11,01 11,02 11,03 11,04 11,05 11,06 11,07 11,08 11,09 11,10 Köhler, J.; Meyer, R.; Homburg, A.: Explosivstoffe, zehnte, vollständig überarbeitete Auflage,, Wiley-VCH, Weinheim 2008, ISBN 978-3-527-32009-7.
  12. Altstoffliste im Bundesanzeiger Nr. 233 a vom 16. Dezember 1986 nebst Berichtigung BAnz. Nr. 51, S. 2635 vom 14. März 1987.
  13. Bundesanstalt für Materialprüfung, Lagergruppenzuordnung von anderen explosiven Stoffen, Berlin.
  14. Hommel: Handbuch der gefährlichen Güter, Springer-Verlag.

Literatur

  • Louis F. Fieser und Mary Fieser, Lehrbuch der Organischen Chemie, übersetzt und bearbeitet von Hans R. Hensel, S.663-665,

Verlag Chemie, Weinheim, 1954.

Weblinks

Commons: Pikrinsäure – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien
Wiktionary: Pikrinsäure – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

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