Purkinjezelle


Schema der Verschaltung innerhalb der Kleinhirnrinde. Purkinjezellen relativ mittig; ihr Zellkörper in der zweiten Schicht des Cortex ("grauer Bereich").

Purkinjezellen sind multipolare (zahlreiche Dendriten und ein Axon), inhibitorische (GABA als Neurotransmitter) Neuronen im Cortex des Kleinhirns. Dieser nach außen gewandte, nervenzellhaltige Bereich wird – analog wie beim Großhirn – auch (Kleinhirn-)Rinde genannt. Sie sind die größten Zellen im Kleinhirn und einige der größten Nervenzellen überhaupt, sowie die einzigen efferenten Zellen der Rinde, d. h. ihre Axone stellen den einzigen Ausgang der Kleinhirnrinde dar.[1][2]

Purkinjezellen zeichnen sich durch einen verhältnismäßig großen Zellkörper (50–70 µm) aus und sind im Abstand von 50–100 µm einschichtig angeordnet. Außerdem besitzen sie einen weit verzweigten Dendritenbaum; dieser liegt praktisch vollständig in der Sagittalebene des Kleinhirns. Das menschliche Kleinhirn verfügt über etwa 15 Millionen Purkinje-Zellen.[2]

Der Cortex des Kleinhirns ist in 3 Schichten gegliedert (grau eingefärbter Bereich in nebenstehender Abbildung). Ganz außen in der Molekularschicht (Stratum moleculare) liegt der Dendritenbaum der Purkinjezellen, daran anschließend die Purkinjezellschicht (auch Stratum purkinjense), die von deren Somata (Zellkörper) gebildet wird. Und schließlich Körnerzellschicht (Stratum granulosum), in der sich die Axone der Purkinjezellen befinden.[3]

Die Purkinje-Zellen und die Kleinhirnkerne sind streng somatotopisch organisiert.[4] Das bedeutet, die Muskulatur des Kopfes ist in den hinteren, die der Beine in den vorderen Anteilen der Kerne repräsentiert; ähnlich dem Homunkulus der Großhirnrinde.

Geschichte

Historische Darstellung von zwei Purkinjezellen aus dem Kleinhirn der Taube (Santiago Ramón y Cajal, 1899)

Benannt wurden sie nach ihrem Entdecker, dem tschechischen Physiologen Jan Evangelista Purkyně (1787–1869), der sie 1837 erstmals beschrieb.[5]

Synaptische Verschaltung der Purkinjezellen

Purkinjezellen in grün (Calbindin) und Korbzellen in rot (Neurofilament) Kerne in blau (DAPI Kernfärbung). Kleinhirn der Maus, Vibratomschnitt, Fluoreszenzmikroskopie (Konfokales Laser Scanning Mikroskop Zeiss 510 META)
Purkinjezellen in einem sagittalen Kleinhirnschnitt. Sie exprimieren den GFP-Abkömmling EGFP unter Kontrolle des Purkinjezell-spezifischen Promotors L7 und fluoreszieren deswegen bei Anregung mit blauem Licht.

Erregende Eingänge

Seine Afferenzen erhält das Kleinhirn aus der Peripherie (u. a. von Muskelspindeln), dem Hirnstamm und der Großhirnrinde; die letztlich auf die Purkinjezellen konvergieren.[4]

Die Purkinjezellen erhalten zwei erregende Eingänge und zwar von dem Kletterfaser-System und dem Moosfaser-Parallelfaser-System; diese sind exzitatorisch und glutamaterg.

  • Die Kletterfaser entspringt der unteren Olive, einem Kerngebiet in der Medulla oblongata. Ihren Namen bezieht sie daher, dass sie den Dendritenbaum der Purkinjezelle aufsteigend umschlängelt: Besonders zu primären Dendriten im proximalen, also näher zum Soma gelegenen Teil, bildet sie besonders starke Synapsen mit der Purkinjezelle aus.

Im Gegensatz zum Parallelfaser-Eingang – der eine erhebliche räumliche Summation zur Auslösung eines Aktionspotentials (AK) benötigt – ist die Wahrscheinlichkeit der Transmitterfreisetzung an den präsynaptischen Endigungen bei Eintreffen eines AK sehr hoch (schon ein einzelnes Kletterfaser-Aktionspotenzial erregt die Purkinjezelle überschwellig).[3]

Eine Purkinje-Zelle hat synaptische Kontakte mit nur einer Kletterfaser; hingegen konvergieren auf sie etwa 100 000 Parallelfasern.[3] Kurz nach der Geburt sind die meisten Purkinjezellen zunächst noch von mehreren Kletterfasern innerviert. Durch Elimination überzähliger Synapsen bildet sich während der Entwicklung die typische Monoinnervation der Purkinjezellen durch jeweils eine Kletterfaser heraus.

  • Die Moosfasern (Axone von Neuronen in Hirnstammkernen und Rückenmark) und Parallelfasern (Axone der Körnerzellen in der Körnerzellschicht)

Die Moosfasern (ca. 50 Millionen) sind Axone von Neuronen in Hirnstammkernen und Rückenmark. Sie vermitteln Information aus Großhirnrinde und aktivieren die Körnerzellen, deren Axone die Parallelfasern sind, die wiederum die Purkinje-Zellen erregen. Eine Parallelfaser hat jeweils nur eine Synapse pro Purkinje-Zelle.[3]

Diese steigen in die Molekularschicht auf und gabeln sich dort im rechten Winkel. Der Teil des Körnerzellaxons nach der Gabelung wird als Parallelfaser bezeichnet. Diese Fasern durchziehen in paralleler Anordnung (daher der Name) die Molekularschicht und treffen im rechten Winkel auf den Dendritenbaum der Purkinjezellen. Jede Parallelfaser innerviert viele Purkinjezellen, bildet dabei aber selten mehr als eine, nie mehr als zwei Synapsen. Das heißt, das Axon endet nicht am Ort der Synapse. Diese Art der Innervation wird auch als en-passant-Synapse bezeichnet. Jede Purkinjezelle besitzt mehr als 100 000, je nach Quelle bis zu 200 000, Parallelfasersynapsen. Die einzelne Parallelfasersynapse ist "schwach" im Vergleich zur Kletterfasersynapse. Die Wahrscheinlichkeit für Transmitterfreisetzung im präsynaptischen Teil ist also gering.

Hemmende Eingänge

Die Purkinjezelle wird in der Molekularschicht wesentlich von zwei Interneurontypen hemmend innerviert: den Korbzellen und den Sternzellen.[2]

Im proximalen Teil des Dendritenbaums der Purkinjezellen sind das besonders die Korbzellen, mehr distal vor allem die Sternzellen. In der Körnerzellschicht finden sich die Golgi-Zellen (multipolare Ganglienzellen vom Typ Golgi, die als große Körnerzellen der Kleinhirnrinde imponieren) als weiterer Interneurontyp. Die Synapsen dieser drei Interneuronen sind GABAerg, das heißt, sie benutzen GABA als Transmitter.

Vor kurzem wurde entdeckt, dass entgegen bisherigen Annahmen auch die Lugarozellen in der Körnerzellschicht Synapsen mit der Purkinjezelle hat. Diese sind allerdings nur unter bestimmten Voraussetzungen aktiv. Zum Beispiel brauchen sie die Anwesenheit des Neurotransmitters Serotonin.[6][7]

Ausgang der Purkinjezelle

Die Axone der Purkinjezelle stellen den einzigen Ausgang der Kleinhirnrinde dar und innervieren die Kleinhirnkerne. Da sie GABA ausschütten, wirken sie hemmend.[3] Im Axon der Purkinjezelle werden die Aktionspotentiale generiert, und zwar am ersten Ranvierschen Schnürring, ca. 75 µm vom Soma entfernt.

Spines

Der Dendritenbaum der Purkinjezellen ist, ähnlich wie der vieler zentraler Neurone, dicht mit Dornfortsätzen – den sogenannten spines – besetzt. Auf den spines der Purkinjezellen befinden sich die erregenden Synapsen. Die GABAergen hemmenden Synapsen besitzen keine spines.

Die spines der Purkinjezelle unterscheiden sich darin, ob sie von der Kletterfaser oder den Parallelfasern innerviert werden. Kletterfaser-spines befinden sich vor allem im proximalen (näher zum Soma gelegenen) Teil des Dendritenbaumes, während Parallelfaser-spines vor allem die dünnen distalen (weiter vom Soma entfernten) Bereiche des Dendritenbaumes besetzen.

Kletter- und Parallelfaser-spines entwickeln sich unterschiedlich. Die Anlage der Parallelfaser-spines braucht keine synaptische Aktivität. Sie ist wahrscheinlich in der Entwicklung des Neurons intrinsisch vorgegeben. Das Wachstum von Kletterfaser-spines dagegen benötigt die Anwesenheit und Aktivität funktioneller Parallelfasersynapsen und wird andererseits durch die Aktivität der Kletterfaser gehemmt.

Rezeptoren und Ionenkanäle in Purkinjezellen

An den erregenden glutamatergen Kletter- und Parallelfasersynapsen exprimieren Purkinjezellen Glutamatrezeptoren. Bemerkenswerterweise verfügen reife Purkinjezellen nicht über NMDA-Rezeptoren. Die einzigen ionotropen Glutamatrezeptoren in Purkinjezellen sind AMPA-Rezeptoren. Da letztere über die GluR2-Untereinheit verfügen, ist ihre Calcium-Permeabilität gering.

Purkinjezellen exprimieren als einzige Neuronen im ZNS den GluRδ2-Rezeptor. Die Aminosäuresequenz dieses Rezeptors lässt vermuten, dass es sich um einen ionotropen Glutamatrezeptor handelt. Trotzdem wurde bisher weder eine direkte Bindung von Glutamat an diese Untereinheit, noch ihr Einbau in einen bekannten Glutamtarezeptor nachgewiesen. GluRδ2-Rezeptoren befinden sich vor allem an den Parallelfasersynapsen der Purkinjezellen. Bei Fehlen des Rezeptors kommt es zu Störungen der synaptischen Plastizität auf zellulärer Ebene und zu Störungen der motorischen Kontrolle und des motorischen Lernens auf Verhaltensebene. Viele andere postsynaptische Proteine stehen in Wechselwirkung mit der GluRδ2-Untereinheit. Der GluRδ2-Rezeptor hat also eine Schlüsselrolle für die Funktion des Kleinhirns, auch wenn seine Funktion und sein Wirkungsmechanismus noch ungeklärt sind.

Sowohl an Parallelfaser- als auch an Kletterfasersynapsen sind in Purkinjezellen perisynaptisch (also am Rand, nicht im Zentrum der Synapse) metabotrope Glutamatrezeptoren lokalisiert, und zwar überwiegend der Subtyp mGluR1.

Wie in allen Neuronen sind auch in Purkinjezellen spannungsaktivierte Natriumkanäle für die Entstehung und Weiterleitung von Aktionspotentialen zuständig. Sie werden in erster Linie im Soma und Axon der Purkinjezelle exprimiert. Im Dendritenbaum nimmt ihre Dichte mit zunehmendem Abstand vom Soma schnell ab. Aus diesem Grund dringt im Gegensatz zu anderen Neuronentypen wie zum Beispiel Pyramidenzellen im Hippocampus das Aktionspotential in Purkinjezellen nicht stark in den Dendritenbaum ein. In den Purkinjezellen von Säugetieren sind vor allem die Natrium-Kanäle Nav1.1, Nav1.2 und Nav1.6 exprimiert.

Im Dendritenbaum und Soma der Purkinjezellen finden sich spannungsabhängige Calciumkanäle, die zum größten Teil zum P/Q-Typ gehören. Diese bewirken bei starker Depolarisation (wie zum Beispiel einem Aktionspotential oder synaptischer Aktivität von Kletter- und/oder Parallelfasern) einen Einstrom von Calciumionen in die Zelle.

In der Membran des endoplasmatischen Retikulums (ER) von Purkinjezellen befinden sich ligandenaktivierte Calciumkanäle, und zwar sowohl IP3-Rezeptoren als auch Ryanodin-Rezeptoren. Beide setzen bei ihrer Aktivierung Calcium-Ionen aus dem ER-Calciumspeicher in das Cytosol frei und erhöhen dort die Konzentration sogenannter freier Calcium-Ionen. Von den verschiedenen IP3-Rezeptoren wird in Purkinjezellen in erster Linie der Subtyp 1 (IP3R1) exprimiert, und zwar im Vergleich zu anderen Zelltypen in mindestens 10facher Menge.

Spontanaktivität der Purkinjezellen

Purkinjezellen zeichnen sich durch eine hohe Spontanaktivität aus. Darunter versteht man, dass sie Aktionspotentiale unabhängig davon generieren, ob sie von Kletter- oder Parallelfasern erregt werden. Sie feuern mit einer Frequenz von ca. 50-150 Hz. Als Rhythmusgeneratoren dienen dabei vor allem Calcium-aktivierte Kaliumkanäle, die sogenannten BK-Kanäle.[8]

Einzelnachweise

  1. Robert F. Schmidt (Herausgeber), Florian Lang (Herausgeber), Manfred Heckmann (Herausgeber): Physiologie des Menschen: mit Pathophysiologie: mit Pathophysiologie mit Repetitorium. Springer Berlin Heidelberg; Auflage: 31., neu bearb. u. aktual. Aufl. (4. Oktober 2010), ISBN 3642016502, Seite 167/168
  2. 2,0 2,1 2,2 Theodor H. Schiebler, Horst-W. Korf: Anatomie: Histologie, Entwicklungsgeschichte, makroskopische und mikroskopische Anatomie, Topographie. Steinkopff; Auflage: 10., vollst. überarb. Aufl. (21. September 2007), ISBN 3798517703, Seite 786
  3. 3,0 3,1 3,2 3,3 3,4 Rainer Klinke (Autor), Hans-Christian Pape (Autor), Armin Kurtz (Autor), Stefan Silbernagl (Autor): Physiologie: Lehrbuch. Thieme, Stuttgart; Auflage: 6. vollständig überarbeitete Auflage. (18. November 2009), ISBN 3137960061, Seite 769/770
  4. 4,0 4,1 Florian Lang (Autor), Philipp Lang (Autor): Basiswissen Physiologie. Springer, Berlin; Auflage: 2., vollständig neu bearb. und aktual. Aufl. (30. Mai 2008), ISBN 3540714014, Seite 359
  5. Stanley Finger: Origins of Neuroscience: A History of Explorations Into Brain Function. Oxford Univ Pr; Auflage: Reprint (11. Oktober 2001), ISBN 0195146948, Seite 43
  6. Funktionelle Architektur der Kleinhirnkerne der Ratte – Dissertation gehostet bei der Uni Tübingen
  7. The Neuroscientist - The Lugaro Cell Is a Major Effector for Serotonin in the Cerebellar Cortex – Artikel gehostet bei princeton.edu
  8. BK Channels Control Cerebellar Purkinje and Golgi Cell Rhythmicity In Vivo – Artikel bei plosone.org

Literatur (Kapitel)

  • Theodor H. Schiebler, Horst-W. Korf: Anatomie: Histologie, Entwicklungsgeschichte, makroskopische und mikroskopische Anatomie, Topographie. Steinkopff; Auflage: 10., vollst. überarb. Aufl. (21. September 2007), ISBN 3798517703, Seite 786-791
  • Rainer Klinke (Autor), Hans-Christian Pape (Autor), Armin Kurtz (Autor), Stefan Silbernagl (Autor): Physiologie: Lehrbuch. Thieme, Stuttgart; Auflage: 6. vollständig überarbeitete Auflage. (18. November 2009), ISBN 3137960061, Seite 769/770

Weblinks

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