Schwarze Tollkirsche
Schwarze Tollkirsche | ||||||||||||
---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|
Schwarze Tollkirsche (Atropa belladonna), Illustration | ||||||||||||
Systematik | ||||||||||||
| ||||||||||||
Wissenschaftlicher Name | ||||||||||||
Atropa belladonna | ||||||||||||
L. |
Die Schwarze Tollkirsche (Atropa belladonna) ist eine giftige Pflanzenart aus der Familie der Nachtschattengewächse (Solanaceae). Der Gattungsname Atropa entspringt der griechischen Mythologie. Die griechische Göttin Atropos gehört zu den drei Schicksalsgöttinnen und ist diejenige, die den Lebensfaden durchschneidet. Die Herkunft des Artepithetons belladonna ist nicht ganz geklärt. Oft wird es mit dem italienischen Begriff belladonna für „Schöne Frau“ assoziiert, da der atropinhaltige Saft eine pupillenvergrößernde Wirkung besitzt und früher zu Schönheitszwecken von Frauen eingesetzt worden ist. Die schwarze Tollkirsche gilt als alte Zauberpflanze. Aktuell findet sie als Arzneipflanze Verwendung.
Beschreibung
Allgemeine Merkmale und Habitus
Bei der Schwarzen Tollkirsche handelt es sich um eine ausdauernde, krautige Pflanze, die gewöhnlich Wuchshöhen zwischen 50 cm und 1,50 m erreicht. Sind die Standortbedingungen günstig, können auch 2 Meter hohe Exemplare beobachtet werden. Als Speicherorgan dient eine rübenförmige, verdickte Hauptwurzel, einschließlich des verdickten Hypokotyls und Epikotyls[1]. Die braune, oft mehrfach verästelte Pfahlwurzel besitzt saftige Konsistenz und reicht etwa 1 Meter weit ins Erdreich. Die Erneuerungsknospen liegen- wie für eine Pleiokormstaude typisch- im Umkreis des Wurzelhalses. Eine sprossbürtige Bewurzelung ist möglich, selbständige Teilpflanzen entstehen jedoch nicht.[2] Die reich verzweigte Pflanze zeigt ein kräftiges Erscheinungsbild. Der stumpfkantige, oft etwas rötlich angelaufene und leicht gerillte Stängel wächst aufrecht und weist eine feine Behaarung auf. Sein ästiges Aussehen ist auf die Art der Verzweigung zurückzuführen. Bei ungefähr einem Meter Höhe werden erstmals Zweige gebildet. Der Spross spaltet sich hier gewöhnlich in drei waagrecht abstehende Äste, die sich wiederum zweigabelig teilen. Der Sprossaufbau ist durch charakteristische Verwachsungen und Verschiebungen der Achsen und Blätter gekennzeichnet und wirkt dadurch verwickelt. Die Äste sind mit kurzen, weich abstehenden, drüsigen Haaren besetzt. Die Leitbündel sind bikollateral, was bedeutet, dass sich das Phloem an der Außen- und Innenseite des Xylems befindet.[3] Die Blüte und Fruchtreifezeit überschneiden sich zeitlich. So können an einer Pflanze- typisches Merkmal vieler beerentragender Arten der Familie der Nachtschattengewächse- mehrere Entwicklungsstufen zugleich beobachtet werden. Die Schwarze Tollkirsche trägt im Sommer grüne Blütenknospen, bräunlich-violette Blüten, grüne unreife Beeren und schwarze reife Beeren nebeneinander.[4][5].
Blätter
Die kurz gestielten, sommergrünen Laubblätter können eine Länge von bis zu 15 cm und eine Breite bis etwa 8 cm entwickeln. Die Spreite ist oval bis elliptisch geformt und läuft lanzettlich zugespitzt aus. Der Blattrand ist meist ganzrandig. Die Blattoberseite besitzt eine grün-bräunliche Farbgebung mit eingesenkter gefiederter Nervatur, die Blattunterseite ist grün-gräulich gefärbt. Die Blattnerven treten hier stärker hervor. Jüngere Blätter bilden eine reichliche Behaarung aus, ältere Blättern weisen meist nur auf der Nervatur der Blattunterseite eine flaumige schwache Behaarung auf. Diese setzt sich aus mehrzelligen Gliederhaaren und langgestielten Drüsenhaaren mit vielzelligen gekrümmten Köpfen zusammen. Die Zellen sind zweireihig angeordnet.[4]. Die Epidermiszellen der Blattoberseite sind schwach, auf der Blattunterseite stark wellig-buchtig ausgeprägt. Die Spaltöffnungen besitzen drei Nebenzellen[4].
Obwohl die Blätter im oberen Sprossabschnitt einander paarweise genähert stehen, sind sie nicht gegenständig sondern wechselständig angeordnet. Als charakteristisch für die Tollkirsche kann die paarweise Näherung der Blätter im Bereich des Blütenstandes bezeichnet werden. Grundsätzlich steht hier ein kleineres Blatt mit einem größeren zusammen[6].
Blüten
Die zwittrigen Blüten der Schwarzen Tollkirsche entspringen einzeln, seltener zu zweit oder in dreiblütigen Wickeln den oberen Blattachseln der Laubblätter. Die Blüten sind waagrecht orientiert, ihre Länge beträgt etwa drei Zentimeter. Die Schwarze Tollkirsche besitzt ein doppeltes Perianth. Der bleibende während der Blüte glockige Kelch ist flaumig behaart. Er ist bis zu zwei Drittel seiner Länge eingeschnitten. Die fünf Kelchlappen besitzen eine ovale, nach oben spitz zulaufende Form. Die glockig-röhrenförmige mit feinen Haaren besetzte Krone ist an der Außenseite braun-violett gefärbt, die Innenseite weist eine gelbgrüne Farbgebung mit purpurroter Aderung auf. Sie besitzt einen fünf-zipfeligen Saum, der nach außen leicht zurückgerollt ist. Die Saumzipfel weisen eine oval-rundliche Form auf. Die oben bogig voneinander abstehenden fünf Staubblätter sind an der Basis mit der Krone verwachsen. Die Länge der ahlenförmigen Staubfäden entspricht in etwa der Länger der Krone. Die aufsteigenden, dicken Staubbeutel öffnen sich der Länge nach und setzen weiße Pollenkörner frei. Der schrägzygomorphe oberständig stehende Fruchtknoten ist coenokarp. Er ist oval geformt und besteht aus zwei miteinander verwachsenen Fruchtblättern, die zwei Fruchtfächer bilden. Die Scheidewand zwischen den Fächern entspricht der Achse des Fruchtknotens und steht schräg zur Mediane der Blüte. In den Fächern sind an einer dicken Plazenta zahlreiche anatrope Samenanlagen angeordnet[3]. Der fadenförmige violettfarbene und nach unten geneigte Griffel überragt die Antheren. Er ist von einer kopfigen, zweilappiggen Narbe gekrönt. Die Schwarze Tollkirsche bietet Nektar an. Ein Nektardiskus, ein fleischiges gelbes Polster, liegt unterhalb des Fruchtknotens. Lange, der Filamentbasis entspringende Haare schützen vor Nektarraub[7][8]
Die Blütezeit erstreckt sich von Juni bis August.
Frucht und Samen
Die im unreifen Zustand grüne Beere ist im Reifestadium durch Anthocyane schwarz gefärbt. Der Aufbau der Frucht gleicht einer Tomate, auch wenn sie viel kleiner ist. Die 10 bis 15 Millimeter großen, kugeligen Beeren zeigen eine schwarze, lackartig glänzende Oberfläche. Die Fruchtwand ist bei Reife saftig-fleischig. Das Fruchtfleisch besitzt eine blaurote Färbung. Die beiden Fruchtfächer enthalten zahlreiche ovale, braune Samen. Sie sitzen der mittlerweile vergrößerten hellgelben Plazenta an. Auch der Kelch ist etwas vergrößert. Wie ein ausgebreiteter Stern umgibt er die reife Frucht. Der Geschmack der reifen und saftigen Tollkirschenfrucht ist leicht süßlich, etwas bitter und leicht adstringierend, er hinterlässt ein pelziges Gefühl im Mund. Die Beeren reifen von August bis Oktober[7][9]. Die 2 Millimeter großen, nierenförmigen Samen sind von harter Konsistenz und besitzen eine kleingrubige Oberflächenstruktur. Sie benötigen Licht und Kälte zum keimen. Weniger als 60 % der Samen sind keimfähig.
Ökologie
Bestäubungsökologie
Bei den zwittrigen Blüten der Schwarzen Tollkirsche reifen die weiblichen Geschlechtsorgane -Griffel und Narbe- vor den männlichen Fortpflanzungsorganen, den Staubbeuteln. Eine mögliche Überlappung der weiblichen und männlichen Blütenphase ist in der Diskussion, jedoch noch nicht geklärt. Dieser Mechanismus, botanisch Proterogynie genannt, fördert Fremdbestäubung im Vergleich zur Selbstbestäubung[1]. Bei ausbleibender Fremdbestäubung findet auch spontane Selbstbestäubung innerhalb der Blüte statt[1]. Die Blüten der schwarzen Tollkirsche sind nach Kugler Glockenblumen mit klebrigen Pollen, die Nektar und Honig anbieten. Hauptbestäuber sind Bienen und Hummeln. Bei der Suche nach Nektar kriechen sie in die Blüte hinein. Dabei wird von einer anderen Blüte mitgebrachter Pollen an der Narbe abgestreift. Nach erfolgter Bestäubung verwelken Griffel und Krone relativ schnell.[7][9].
Ausbreitungsökologie
Die Samen werden meist von Vögeln endochor ausgebreitet. Besonders Drosseln, Amseln und Spatzen, aber auch Mönchsgrasmücke, Star und Fasan wurden beim Verspeisen der Früchte beobachtet. Auch Schnecken knabbern die Früchte an. Die dabei aufgenommenen kleinen Samen werden etwa 10 bis 12 Stunden später unversehrt ausgeschieden[7].
Synökologie
Die Schwarze Tollkirsche stellt für Raupen verschiedener Falterarten eine polyphag genutzte Futterpflanze dar. Die Raupen der Geißblatt-Brauneule (Blepharita satura), des Totenkopfschwärmers[10], der Dunkelbraunen Erdeule (Eugnorisma depuncta) und des Waldkräuter-Blütenspanner (Eupithecia subfuscata) schätzen das Kraut der Pflanze. Die Raupen der Bilsenkraut-Blüteneule (Heliothis peltigera) bevorzugen die Samenkapseln. Die Raupen der Kohleule (Mamestra brassicae) leben gewöhnlich im Inneren des Herztriebes und können auch als Schädlinge in Erscheinung treten.[11]
Der Käfer Haltica atropa ernährt sich von den Blättern der Schwarzen Tollkirsche und ist auf ihr Vorkommen existentiell angewiesen.[4]
Vorkommen
Verbreitung
Das Verbreitungsgebiet erstreckt sich von Skandinavien, West- und Südeuropa und den Balkan über Kleinasien bis nach Nordafrika und den Iran. In Deutschland gilt die Schwarze Tollkirsche in Bayern, Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Saarland, dem östlichen Teil Nordrhein-Westfalens, Hessen, Thüringen und Süd-Niedersachsen als verbreitet. Zerstreute Vorkommen sind in Süd-Nordrhein-Westfalen, Sachsen und Sachsen-Anhalt belegt. Als Neophyt mit seltenem Auftreten gilt die Schwarze Tollkirsche in Bremen und Mecklenburg-Vorpommern[6]. In Österreich ist die Schwarze Tollkirsche in allen Bundesländern häufig vertreten.[12] In der Schweiz gilt sie besonders in der Bergstufe als ziemlich verbreitet. Geringere Vorkommen werden in den westlichen Zentralalpen und der Alpensüdflanke verzeichnet.[13]
Standort
Die Tollkirsche bevorzugt nährstoffreiche Kalk-, Porphyr- und Gneisböden. Man findet sie häufig auf Waldlichtungen von Laub- und Nadelwäldern, an Waldrändern und auf Brachflächen bis in Höhenlagen von 1700 Metern.
Pflanzensoziologie
Die Schwarze Tollkirsche gilt als Kennart der Assoziation Tollkirschen-Schlaggesellschaft (Atropetum belladonnae), die dem Verband der Tollkirschen-Schlaggesellschaften (Atropion) in der Klasse der Weidenröschen-Schlaggesellschaften (Epilobietea angustofolii) angehört. Diese Assoziation besiedelt auf kalkhaltigen Böden Kahlschlagflächen in Wäldern. Neben der Schwarzen Tollkirsche bestimmen Walderdbeeren, Hain-Kletten, die Späte Wald-Trespe, die Lanzett-Kratzdistel, die Kleinblütige Königskerze, Himbeeren, Roter Holunder, Waldweidenröschen und Große Brennnessel das Bild der artenreichen Assoziation.[14][6]
Atropa belladonna als Giftpflanze
Toxikologische Wirkstoffe
Vergiftungen mit den Beeren der schwarzen Tollkirsche nehmen in den Statistiken der Giftnotzentralen im Kontext von Pflanzenvergiftungen eine führende Position ein. Von toxikologischer Bedeutung sind die Tropan-Alkaloide (S)-Hyoscyamin, Atropin, das als Racemat aus (S)- und (R)-Hyoscyamin beim Trocknen oder in Folge der Extraktion gebildet wird, sowie Scopolamin. Scopolamin ist strukturell nah verwandt mit Hyoscyamin, das das Hauptalkaloid der Schwarzen Tollkirsche darstellt. (S)-Hyoscamin und Scopolamin sind kompetitive Antagonisten an Muskarinrezeptoren.[15][3].
In der Frucht sind Hyoscyamin (Atropin), Scopolamin, Apoatropin, Belladonnin und Scopoletin enthalten (siehe auch Alkaloid). In den Blättern befinden sich zwischen 0,5 % und 1,5 %, in den Wurzeln 0,85 %, im Samen 0,8 %, in den Früchten 0,65 % und in der Blüte 0,4 % Tropan-Alkaloide.[16]
Wirkung
Die Tropan-Alkaloide besitzen eine parasympathologische Wirkung. Sie blockieren teilweise die muskarinischen Rezeptoren, die im parasympathischen Nervensystem vorkommen und den Neurotransmitter Acetylcholin (ACh) binden. Dadurch wird der Parasympathicus gehemmt. Sie wirken krampflösend auf die glatte Muskulatur wie Magen-Darm-Trakt, Galle und Blase. Die Bronchien stellen sich weit. Die Aktivität der Speicheldrüsen wird gemindert, so dass leicht Mundtrockenheit entsteht. Die Schweißbildung ist stark herabgesetzt. Auch eine Erweiterung der Pupillen ist typisch. Besonders in höheren Dosen beeinflussen die Tropan-Alkaloide das Zentrale Nervensystem. Sie besitzen einen halluzinogenen Effekt. Hyoscyamin wirkt höher dosiert stark erregend, Scopolamin dämpfend[3].
Eine Vergiftung mit der schwarzen Tollkirsche verläuft in Abhängigkeit von der Menge der Atropindosis (mg) etwa in folgenden Stadien: Zwischen 0,5 und 1 Milligramm tritt Mundtrockenheit auf. Von 1 bis 3 Milligramm ist eine Erweiterung der Pupillen zu beobachten. Zwischen 3 und 5 Milligramm kommen Symptome wie Intoxikation, Sehstörungen, Hitzegefühle und Tachykardie hinzu. Nach starker Erregung kann bei höherer Dosis begleitet von Fieber ein Koma erfolgen und der Tod durch Atem- und Herzstillstand eintreten.[3]
Giftigkeit
Bei Kindern wird die letale Dosis (LD 50) bei drei bis vier Beeren angegeben, bei Erwachsenen bei 10 bis 12 Beeren. Dies entspricht etwa 1,4 mg pro Kilogramm Körpergewicht. Vergiftungserscheinungen durch die Blätter können bereits ab 0,3 g auftreten. Der Gesamtgehalt an Alkaloiden einer Pflanze ist abhängig vom Standort und vom Zeitpunkt der Ernte.[4][17]
Vergiftungen können innerhalb der ersten Stunde nach Aufnahme des Gifts mit Magenspülungen behandelt werden. Zusätzlich oder allein kann medizinische Kohle verabreicht werden. Das spezifische Antidot ist Physostigminsalicylat.[15]
Geschichte
Heilpflanze
Für das klassische Altertum konnte die medizinische Verwendung der Schwarzen Tollkirsche nicht mit Sicherheit nachgewiesen werden. In der älteren Volksmedizin sind äußerliche Anwendungen belegt. In mittelalterlichen Kräuterbüchern steht die „unsinnig und tollmachende“ Wirkung der Pflanze im Mittelpunkt. Hildegard von Bingen assoziierte sie mit dem Teufel und beschrieb die zerrüttende Wirkung der Pflanze auf den menschlichen Geist. Hieronymus Bock (1539) und Pietro Andrea Mattioli führten detaillierte Beschreibungen von Vergiftungsfällen auf. Hieronymus Bock und Conrad Gessner sahen innere Anwendungsmöglichkeiten im Bereich der Veterinärmedizin. John Ray ging 1686 in der Naturgeschichte der Pflanzen ausführlich auf die Anwendungsmöglichkeiten der Schwarzen Tollkirsche in der Augenheilkunde ein.[18] Der französische Arzt Étienne François Geoffroy (1672–1731) legte in seiner Materia medica eine chemische Analyse der Schwarzen Tollkirsche dar. In einer ausführlichen Abhandlung fasste er die bis dato bekannten Wirkungen der Pflanze zusammen. Dies führte zu einer gedanklichen Auseinandersetzung über innerliche Anwendungsmöglichkeiten in der Humanmedizin[4]. Die Aufnahme der Schwarzen Tollkirsche in die Materia medica von Carl von Linné (1749) bewirkte eine weitere Diskussion zu inneren Verwendungsmöglichkeiten.[4] Insbesondere die Realisierung der pupillenerweiternden Wirkung des Saftes der Schwarzen Tollkirsche leitete eine Aufnahme der Pflanze in die Pharmakopöe und Ophthalmologie ein und begründete das schulmedizinische Interesse an der weiteren Erforschung.[4]
In Osteuropa fand die Schwarze Tollkirsche bei der Behandlung von Lähmungen Anwendung. Auch wurde sie dort als Abortivum eingesetzt.[19]
Das in der Schwarzen Tollkirsche enthaltene Atropin wird heutzutage in der Medizin genutzt. Die enthaltenen Alkaloide besitzen eine anticholinerge Wirkung. Die Droge findet bei kolikartigen Schmerzen des Gastrointestinaltraktes und der Gallenwege Anwendung. Die Reinalkaloide und ihre chemisch abgewandelten Derivate werden bei spastischer Obstipation, Koliken des Magen-, Darmtrakts der Galle und ableitenden Harnwege eingesetzt. In der Augenheilkunde wird die mydriatische Wirkung zur Pupillenerweiterung genutzt. Eingesetzt wird sie als Therapeutikum, wegen der lang anhaltenden Wirkung erfolgt keine Anwendung in der Augen-Diagnostik. Die Intensivmedizin verwendet sie bei Vergiftungen mit Acetylcholinesterasehemmern sowie bei vorbereitenden Maßnahmen zur Operation, um Speichel- und Magensäureproduktion bei der Narkoseeinleitung herabzusetzen.[20][21]
Inhaltsstoffe der Wurzel dienen zur Herstellung eines Medikaments gegen die Parkinson-Krankheit. In Europa wurde hierfür keine Zulassung erteilt.
Jede Apotheke muss Atropin in injizierbarer Form als Antidot gegen Vergiftungen mit Phosphorsäureestern, z.B. E 605 vorrätig halten.
Zauberpflanze
Im Volksglauben galt die Schwarze Tollkirsche als eine alte Zauberpflanze und ihr wurden magische Kräfte zugeschrieben. Im Umgang mit der Pflanze waren häufig bestimmte Zeremonien einzuhalten.[19] So berichtet Christian Rätsch von einem früheren osteuropäischem Liebeszauber, der in Form eines Rituals begangen wurde. Um die Zuneigung eines Mädchens zu gewinnen, sollte die Wurzel einer Tollkirsche ausgegraben werden und an deren Stelle Gaben für den Pflanzengeist gelegt werden.[4] Einem Trank aus der Wurzel wurde eine aphrodisiatische Wirkung nachgesagt. Als Amulett um den Hals getragen, verhalf die Tollkirschenwurzel Zuneigung der Mitmenschen zu erlangen – so der Volksglaube. In Rumänien ist der Glaube, dass die Tollkirsche im Garten der Sitz des Hausgeistes ist, noch heute verbreitet[19].
Extrakte der Schwarzen Tollkirsche gelten auch als Zutat der sogenannten Hexensalben. Gemäß seinen Forschungen geht Enrico Malizia davon aus, dass sich die als Hexen bezeichneten Frauen den Körper mit diesen Salben einrieben, da sie glaubten, dann fliegen oder sich in Tiere verwandeln zu können[22]. Die Zusammensetzung der Salben enthalte gemäß den gesammelten Rezepturen an halluzinogenen Pflanzenextrakten neben der Schwarzen Tollkirsche auch Bilsenkraut oder Stechapfel und weitere Zutaten wie z. B. Pulver zermahlener Menschenknochen oder andere Pflanzenextrakte[22]. Wissenschaftler, die das Phänomen des Hexenflugs und der Tierverwandlung näher analysiert haben, geben an, dass die halluzinogene Wirkung der Drogen die Flug- und Verwandlungserlebnisse während des nächtlichen Schlafs so real vermittelte, dass die Betroffenen an die Realität der Träume glaubten.[22] In Hexenprozessen sollen die Halluzinationen, erotischen Träume und Wahnzustände, die die Inhaltsstoffe bei höherer Dosis auslösten, Geständnisse provoziert haben, die den Hexenverdacht dann bestätigten[19].
Als Beispiel für eine Flugsalbe, deren halluzinogene Wirkstoffe die Vorstellung einer negativ oder positiv erfahrenen Flugreise hervorrufen können, nennt Malizia eine Kombination von Wolfsbeere (Atropa belladonna), Samen der Tollgerste (Lolium annuum), Bilsenkraut, Wasserschierling, Schlafmohn, Alraune, und Seerose. [23]
Botanische Geschichte
Für das klassischen Altertum gilt die Schwarze Tollkirsche nur an einer Stelle mit einiger Sicherheit als belegt. Korbert bewertet ihre Erwähnung bei Theophrast, der sie als Frucht des Mandragoras mit schwarzer Farbe, weinbeerähnlichem Geschmack und weinfarbigem Saft beschreibt, als älteste mit Sicherheit belegte Stelle. Da Mandragora-Arten gelbe Früchte tragen, kann eine solche hier ausgeschlossen werden. Als erster eindeutiger Nachweis wird das 1412 verfasste Werk Liber de simplicibus von Benedetto Rinio angesehen. Anhand der Abbildungen kann die dritte der vier dargestellten Nachtschattengewächse unter dem Namen Faba inversa als die Schwarze Tollkirsche identifiziert werden. 1485 wird die Schwarze Tollkirsche in der Hortus sanitatis, einem der ersten gedruckten und mit Bildern versehenen Kräuterbüchern mit dem Namen Uva inversa und Dolwortz beschrieben. Sie wird hier aufgrund ihrer "kalten Qualität" gegen äußere und innere Hitze empfohlen. [24]Die Erstbeschreibung von Atropa belladonna L. erfolgte 1753 durch Carl von Linné in seinem Werk Species Plantarum, Volume 1, Seite 182 [25]
Namensgebung
Der botanische Gattungsname Atropa ist abgeleitet vom griechischen Wort ἄτροπος = atropos für unabwendbar. Atropos war in der griechischen Mythologie gemeinsam mit Klotho und Lachesis eine der drei Schicksalsgöttinnen. Während Klotho den Schicksalsfaden spann, Lachesis seine Länge festlegte, war es die Aufgabe von Atropos, ihn bei Ende der Lebenszeit zu durchtrennen. Das Artepitheton bella donna wurde bereits im 16. Jahrhundert im Italienischen als Name der Tollkirsche verwendet.[26] Seine etymologische Herkunft ist nach Gnaust nicht ganz geklärt. Sie wird zum einen auf den italienischen Begriff bella donna für schöne Frau zurückgeführt und bezieht sich auf den früheren Gebrauch von Frauen, sich den Pflanzensaft in die Augen zu träufeln. Der im Saft enthaltene Wirkstoff Hyoscyamin besitzt pupillenvergrößernde Wirkung und verleiht den Augen ein dunkles, glänzendes Aussehen. Dies galt insbesondere in der Renaissance als Zeichen für Schönheit. Eine andere Deutung assoziiert den Artnamen Belladonna mit der römischen Kriegsgöttin Bellona. Bevor die Priester sich an die Göttin wandten, pflegten sie das altrömische Ritual, einen Absud der Pflanze zu sich zu nehmen. Eine weitere Interpretation bringt das Epitheton mit einer Magierin namens Belladonna zusammen. Sie soll so schön gewesen sein, dass allein der Anblick ihres Haars lebensgefährlich war.[27]
Der deutsche Trivialname ‚Tollkirsche‘ bezieht sich nicht auf den heute positiv besetzten, umgangssprachlichen Ausdruck „Toll!“ sondern auf die Auslösung von Tollheit (Wildheit, unkontrolliertes Verhalten) bei Mensch und Tier nach Aufnahme subletaler Mengen der halluzinogenen Wirkstoffe der Pflanze. Die anarchische Wirkung spiegelt sich in zahlreichen weiteren Volksnamen wider, wie Schwindelkirsche, Schlafkirsche, Teufelskirsche, Walkerbeere, Irrbeere, Wutbeere, Wolfsbeere oder Tollkraut.
Die schwarze Tollkirsche als Motiv
Das Motiv der Tollkirsche wird in einigen Filmen verarbeitet. Franka Potente ist Regisseurin des 2006 erschienenen Schwarzweißfilms: "Der die Tollkirsche ausgräbt"[28]. Die Handlung beschreibt die Geschichte eines Punks, der mittels Zauberei ins Jahr 1918 gerät. Herman de Vries stellt in dem Kurzfilm "Belladonna" ein Hexenritual mit Tollkirschen dar. Das Buch La Sorcière von Jules Michelet bildet die Grundlage für den avantgardistischen Zeichentrickfilm: Die Tragödie der Belladonna (1973) von Eichi Yamamoto. Jules Michelet setzt sich in seinem Werk mit der Hexenverfolgung auseinander und analysiert sie als eine über Jahrhunderte andauernde Unterdrückung der Frau. Yamamoto wählt aus der Zusammenstellung von Michelet eine metaphorische Geschichte aus, die zum einen die Tragik von Jeanne d'Arc thematisiert, als auch den ewigen Geschlechterkampf. Die Tragödie besteht darin, dass Jeanne am Vorabend der französischen Revolution durch den Schmerz einer Vergewaltigung, begründet auf dem Recht der ersten Nacht, in den Bann des Teufels gerät, der ihre Angst in sexuelle Hingabe verwandelt. Jeanne erlangt durch den Pakt mit dem Teufel diabolische Macht, größere Attraktivität und Respekt in der Dorfgemeinschaft. Den Preis für diese Verbindung zahlt sie mit dem Tod auf dem Scheiterhaufen. Die Handlung klingt mit dem Bild aus, wie ihre Gesinnungsschwestern die Revolution ins Rollen bringen[29]. In dem Film Die schwarze 13", englischer Titel Eye of the devil" mit David Niven, Sharon Tate, Deborah Kerr von 1967, der eine pagane Kultgemeinschaft im südlichen Frankreich thematisiert, wird ein Belladonnarausch filmisch inszeniert. Der Filmtitel, das Auge des Teufels, ist auch ein Synonym für die Tollkirsche.
Die Literatur spiegelt verschiedene Aspekte, die mit der Pflanze assoziiert werden in unterschiedlichen literarischen Gattungen wider. Der Dichter Ernst Stadler verfasste 1911 das Gedicht Der Flüchtling, das auf die halluzinogene Wirkung Bezug nimmt. Michael Küttner geht in seinem Buch Der Geist aus der Flasche unter anderem auf die Verbindung der Tollkirsche mit Märchen der Gebrüder Grimm ein. Der Dichter Ralph Günther Mohnnau gab einen Gedichtband mit dem Namen Ich pflanze Tollkirschen in die Wüsten der Städte heraus. Diese Lyrik geht metaphorisch oder experimentell mit Aspekten der Pflanze um:
... es zettelt Revolutionen an
es erfindet neue Ideologien
&! überlistet beide[30]
Erwin Bauereiss stellt in einem Gedicht über die Tollkirsche die Aspekte der Geliebten, Großen Mutter und Wandlerin des Lebens in den Vordergrund:
...Ein tiefer Sog zieht mich zu dir herab
in dein Zauberreich weit jenseits alles menschlichen Verstandes
Hab ich gekostet von deinen süßen, tief-violetten Früchten
trete ich ein in dein Reich der Schatten der Nacht[31]
Diverse Kriminalromane bauen die Giftwirkung der Tollkirsche in die Handlung ein. Karin Slaughter, eine zeitgenössische Schriftstellerin, gab einem ihrer Kriminalthriller den Titel Belladonna. [4].
Auch in der Malerei ist die Schwarze Tollkirsche ein beliebtes Motiv. Im 19. Jahrhundert und den 1920er Jahren fand die Atropa belladonna mit ihrer anthromorphen Gestalt „Belladonna“ insbesondere in die Druckgraphik Eingang. Im Kontext der Bilderreihe monumenta lamiae von Herman De Vries stellte ein Tollkirschenzweig neben drei anderen Pflanzen das größte Objekt dar. Besonders osteuropäische Länder verwendeten die Schwarze Tollkirsche als Motiv bei Briefmarken [4]
Literatur
- Andreas Alberts, Peter Mullen: Psychoaktive Pflanzen, Pilze und Tiere. Kosmos-Verlag, Stuttgart 2006, ISBN 3-440-10749-3
- Markus Berger: Die Tollkirsche: Königin der dunklen Wälder, (Bibliographie, die die Pflanze aus verschiedenen Richtungen beleuchtet). Nachtschatten Verlag 2008, ISBN 3037881097
- Helmut Genaust: Etymologisches Wörterbuch der botanischen Pflanzennamen. Birkhäuser, Basel 1996, ISBN 3-7643-2390-6
- Bert Marco Schuldes: Psychoaktive Pflanzen, Nachtschatten Verlag, ISBN 3-925817-64-6
- Stinglwagner, Haseder, Erlbeck: Das Kosmos Wald-und Forstlexikon, Kosmos-Verlag, ISBN 978-3-440-10375-3
- Ingrid und Peter Schönfelder: Das neue Handbuch der Heilpflanzen, Franckh-Kosmos Verlagsgesellschaft, 2011, ISBN 3-440-09387-5
Einzelnachweise
- ↑ 1,0 1,1 1,2 Biolflor Bundesamt für Naturschutz: Datenbank biologisch-ökologischer Merkmale der Flora von Deutschland
- ↑ Rothmaler: Exkursionsflora von Deutschland, Spektrum Akademischer Verlag Heidelberg, Berlin, 20. Auflage 2011 ISBN 978-3-8274-1606-3
- ↑ 3,0 3,1 3,2 3,3 3,4 Hess: Systematische Botanik. Ulmer Verlag ISBN 3-8252-2673-5, S. 189ff.
- ↑ 4,00 4,01 4,02 4,03 4,04 4,05 4,06 4,07 4,08 4,09 4,10 Markus Berger: Die Tollkirsche: Königin der dunklen Wälder, Seiten 50–59
- ↑ Horst Wirth: Die Tollkirsche und andere medizinisch angewandte Nachtschattengewächse. Westarp Wissenschaftenverlagsgesellschaft, 2005, ISBN 978-3-89432-758-3, S. 7ff.
- ↑ 6,0 6,1 6,2 Rothmaler: Exkursionsflora von Deutschland, Spektrum Akademischer Verlag Heidelberg, Berlin, 18 Auflage 2002 ISBN 38274-1359-1 Seite 390
- ↑ 7,0 7,1 7,2 7,3 Lüttig, Kasten: Hagebutte & Co - Blüten, Früchte und Ausbreitung europäischer Pflanzen, Fauna Verlag 2003, ISBN 3-935980-90-6 Seite 178 f.
- ↑ Telebotanica - Le réseau de la botanique francophone: Beschreibung: Atropa Belladonna (fr.)
- ↑ 9,0 9,1 Düll, Kützelnigg: Taschenlexikon der Pflanzen Deutschlands - botanisch ökologischer Exkursionsbegleiter, Quelle & Meyer Verlag, 6. Auflage 2005, ISBN 3-494-01397-7 Seite 80 f.
- ↑ Info zum Totenkopf-Schwärmer
- ↑ Schmetterlingsfutterpflanze: Atropa bella-donna L., Tollkirsche. floraweb.de. Abgerufen am 27. November 2011.
- ↑ Adler, Oswald, Fischer: Exkursionsflora von Österreich, Ulmer-Verlag 1994, ISBN 3-8001-3461-6 Seite 694 f.
- ↑ Binz, Becher, Heitz: Schul- und Exkursionsflora der Schweiz, Schwabe & CO Verlag Basel 1980, 17. Auflage, ISBN 3-7965-0761-1 Seite 320
- ↑ Das Kosmos Wald- und Forstlexikon, Seiten 941 f.
- ↑ 15,0 15,1 Aktories, Förstermann, Bernhard, Hofmann, Starke: Repetitorium Allgemeine und spezielle Pharmakologie und Toxikologie Urban & Fischer Verlag/Elsevier GmbH (21. September 2006), ISBN 978-3437425110, Seite 448
- ↑ Dietrich Frohne, Hans-Jürgen Pfänder: Giftpflanzen. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft 1987, Seite 236. ISBN 3804708862
- ↑ Matthias Bastigkeit: Rauschgifte - ein naturwissenschaftliches Handbuch, Govi-Verlag, 1. Aufl. (Mai 2003), Seite 162f. ISBN 978-3774109797
- ↑ Ernst Gilg, Karl Schumann: Das Pflanzenreich (1900)- Hausschatz des Wissens, Verlag von J. Neumann, S. 775 aufgerufen über biolib
- ↑ 19,0 19,1 19,2 19,3 Manfred Boksch: Das praktische Buch der Heilpflanzen, BLV Verlagsgesellschaft München, 4. Auflage 2003 ISBN 3-405-14937-1 Seite 198
- ↑ I. Barnickel, F. Häfele Textbearbeitung: I. Barnickel, P. Lemberger, H. Maiolino: Arzneipflanzen. Hrsg.: Botanischer Garten Erlangen der Universität Erlangen - Nürnberg. 2. Auflage überarbeitet und ergänzt von W.Weis. S. 70.
- ↑ Herdegen: Kurzlehrbuch Toxikologie und Pharmakologie, Thieme Verlag Stuttgart, 1., Aufl. (24. September 2008) ISBN 978-3131422910, Seite 38
- ↑ 22,0 22,1 22,2 Professor (für Toxikologie) Enrico Malizia: Liebestrank und Zaubersalbe, Gesammelte Rezepturen aus alten Hexenbüchern, Orbis-Verlag, Seite 80 ff. ISBN 3-572-01309-7
- ↑ Professor Enrico Malizia: Liebestrank und Zaubersalbe, Gesammelte Rezepturen aus alten Hexenbüchern, Orbis-Verlag, Seite 133. ISBN 3-572-01309-7
- ↑ Heinrich Marzell: Geschichte und Volskunde der deutschen Heilpflanzen. Nachdruck der 2. vermehrten und verbesserten Auflage Stuttgart 1938. Reichl, St. Goar 2002, Seiten 218 ff.
- ↑ Erstveröffentlichung von Linné eingescannt bei Biodiversitylibrary.
- ↑ siehe Genaust, Seite 96
- ↑ Atropa belladonna bei Vermeulen: Homöopathische Substanzen, Sonntag Verlag online aufgerufen 1. November 2011
- ↑ Filmwebsite
- ↑ Rezension von die Tragödie der Belladonna
- ↑ Ralph Günther Mohnnau: Ich pflanze Tollkirschen in die Wüste der Städte. Fischer-TB.-Verlag, Ffm (Mai 1988), Seite 7 ISBN 3-596-27593-8, zitiert in: Markus Berger, Oliver Hotz: Die Tollkirsche: Königin der dunklen Wälder. Nachtschatten Verlag 2008, Seite 54. ISBN 3037881097
- ↑ Heinz Bauereiss: Du unabwendbar Schöne... zitiert in: Markus Berger, Oliver Hotz: Die Tollkirsche: Königin der dunklen Wälder. Nachtschatten Verlag 2008, Seite 54. ISBN 3037881097