Mengenunterscheidung bei Tieren


Die Unterscheidung von Mengen bei Tieren (engl.: numerosity) sowie die Generalisierung von Mengen (engl.: number estimation) wurde in zahlreichen, voneinander unabhängigen verhaltensbiologischen Experimenten nachgewiesen. Insbesondere einige in Japan und in den USA mit Schimpansen – den nächsten Verwandten des Menschen − durchgeführte Studien lassen den Schluss zu, dass einfache mathematische Fähigkeiten nicht auf den Menschen beschränkt sind. Der Nachweis, dass Tiere unterschiedlicher Arten fähig sind, Mengen (und einige von ihnen sogar Zahlen) zu unterscheiden, könnte, wenn eines Tages hinreichend viele Studien vorliegen sollten, einen Hinweis darauf geben, wie sich die Fähigkeit zum Rechnen im Verlauf der Stammesgeschichte der Arten entwickelt hat.

Exaktes Rechnen und die Anwendung komplexer mathematischer Formeln sind zwar kulturelle Leistungen und kommen vermutlich nicht ohne die Fähigkeit zum Benutzen einer Sprache aus. Ein Gespür für mehr oder weniger sowie die Fähigkeit, die Größe einer Menge zu schätzen, sind hingegen nicht an Sprache gekoppelt („Zahlensinn“). Das Unterscheiden von Mengen unterschiedlicher Größe dürfte – neben der Wahrnehmung von Raum und Zeit – sogar eine der elementarsten Voraussetzungen dafür sein, dass Tiere zum Beispiel bei der Futtersuche angemessen auf ihre Umwelt reagieren können.[1]

Erste Studien

Untersuchungen zum „Zahlenverständnis“ von Tieren wurden bereits Anfang des 20. Jahrhunderts – vor der Etablierung des akademischen Faches Tierpsychologie – durchgeführt und bildeten damals die Brücke zur Psychologie des Menschen. Es entstand „eine ausgedehnte Literatur über dieses Phänomen“: Allein im Jahr 1913 wurden mehr als 500 Berichte veröffentlicht.[2] Der Münchener Physiologe Otto Frank publizierte aber beispielsweise bereits 1914 auch genaue Vorschläge, wie man mit Hilfe sorgfältig durchgeführter Tests die angeblichen mathematischen Fähigkeiten von Tieren als Selbstbetrug ihrer Besitzer entlarven könnte; Frank führte das Fehlen solcher Tests darauf zurück, dass sich „die Psychologie noch in der ersten Entwicklung befindet und man wünschen möchte, daß eine bestimmte Richtschnur zur Beurteilung der Denkleistungen der Tiere zur Verfügung stünde.“

„Kluge“ Hunde und Pferde

Der Kluge Hans gibt Zahlen an.

Bereits 1914 hatte Otto Frank am Beispiel des Hundes Rolf aus Mannheim festgestellt: „Nicht der Gelehrte, sondern ein erfahrener Zirkusdirektor oder ein geschickter Detektiv scheint in erster Linie zur Aufklärung berufen. Das wissenschaftlich Interessante liegt mehr in der Psychologie der handelnden Personen.“

Eine auch nach heutigen Maßstäben sehr sorgfältige Verhaltensanalyse des „denkenden Hundes Rolf von Mannheim“ wurde daraufhin im August 1916 in der Münchener Medizinischen Wochenschrift publiziert.[3] Jener Rolf galt zuvor – auch nach Ansicht „einer größeren Anzahl von bedeutenden Psychologen“ – als befähigt, sich mit Hilfe eines „Klopfalphabetes“ (einer Art Morsealphabet) mit den Menschen zu verständigen. Angeblich konnte der Hund rechnen und lesen, Briefe und Gedichte diktieren, ja sogar seine Autobiografie verfassen.

Wegen solcher angeblichen Wundertiere musste sich die neu entstehende Tierpsychologie in den 1920er- und 1930er-Jahren den Rang einer ernstzunehmenden Wissenschaft erst mühsam erkämpfen, da ihre Tierexperimente und -dressuren in den Augen der Akademiker gewissermaßen in Konkurrenz zu pseudowissenschaftlichen Jahrmarktsdarbietungen standen. Bernhard Hassenstein schrieb 1974[4] in seinem Nachruf auf Otto Koehler:

„Besonderes Aufsehen erregten die so genannten klugen Tiere: die Elberfelder Pferde, sowie Rolf, Lumpi, Fips, Kurwenal, Isolde und – bis 1938 – weitere rund 80 Hunde, [5] die scheinbar jedes Menschenwort verstanden, rechneten, Wurzeln zogen und buchstabierten. Auf die Frage eines Theologiepropfessors: Welches ist deine Weltanschauung? antwortete der Dackel Kurwenal: Meine ist die Eure! – Dass diese Wundertiere nur so lange klopften oder bellten, bis ihnen ihre Besitzer, meistens unbewusst, ein Zeichen gaben aufzuhören, ihnen also ihre eigenen Antworten diktierten, war mehrfach erwiesen. Um so entschiedener setzten sich die Gekränkten für ihre Lieblinge ein, und selbst ein Professor der Zoologie diskutierte mit Überzeugung ‚Die zahlensprechenden Hunde als Domestikationserscheinung…‘“

Zu besonderer Bekanntheit hatte es damals der Kluge Hans gebracht, ein Pferd, von dem es hieß, es könne zählen.[6] Es stellte sich jedoch heraus, dass das Tier nur hochsensibel auf Gesichtsausdrücke und Körperhaltungen von Menschen reagierte. 2008 wiesen Forscherinnen der University of Essex dann aber nach, dass Pferde tatsächlich Mengen unterscheiden können: Im Wahlversuch zwischen beispielsweise 6 und 4 Äpfeln (sowie 2 gegen 1, 3 gegen 2) entschieden sich die Pferde jeweils für die größere Menge.[7]

„Zähl-Versuche“ mit Vögeln

Otto Koehler war der erste, der ab 1928 in zahlreichen Veröffentlichungen „Zähl-Versuche“ speziell von Vögeln dokumentierte, die er wiederholt mit exakten naturwissenschaftlichen Methoden untersuchte. So lernten Tauben und Wellensittiche beispielsweise, je nach verschiedenfarbigen Anweisern, entweder 2 oder 4 Köder aufzunehmen. Einem gezähmten Raben brachte Koehler bei, unter mehreren Gefäßen stets dasjenige auszuwählen, auf dessen Deckel sich fünf Punkte befanden, wobei Form, Größe und Lage der Punkte von Versuch zu Versuch verändert wurden.[8] Der Graupapagei Jako reagierte auf akustische und visuelle Reize, indem er beispielsweise nach 3 Lichtblitzen 3 Köder aus den dargebotenen Schälchen entnahm, zudem unterschied er Ein- von Zweiklängen.

Otto Koehler zufolge reichte das Unterscheiden von Anzahlen stets bis zu bestimmten oberen Grenzen: bei Tauben 5, bei Wellensittichen und Dohlen 6, bei Amazonenpapageien, Elstern und Kolkraben 7, beim Graupapagei 8. Bernhard Hassenstein leitete aus diesen – später von anderen Forschern im Wesentlichen bestätigten – Daten 1974 ab, dass das Vermögen, Anzahlen zu unterscheiden, bei Menschen und Tieren „einer gemeinsamen Wurzel entstammt“, da unter gleichartigen Versuchsbedingungen „Menschen etwa dasselbe leisten wie diese Tiere.“ [9]

Frühe Versuche mit Ratten

Die Experimente Otto Koehlers mit Vögeln wurden in den 1930er- und 1940er-Jahren von anderen Forschergruppen nicht reproduziert, was zum Teil eine Folge des Zweiten Weltkriegs war, da kaum irgendwo eine Neigung bestand, die Glaubwürdigkeit deutscher Forscher zu überprüfen. Vor allem in den USA war die Verhaltensforschung zudem durch behavioristische Forschungsansätze geprägt, die zunächst kein Interesse an Fragestellungen zu angeborenen, anscheinend kognitiven Leistungen von Tieren aufkommen ließen. Dennoch war es dann aber gerade einer der Pioniere des aus dem Behaviorismus abgeleiteten, so genannten programmierten Lernens, der US-amerikanische Psychologe Francis Mechner von der Columbia University, der Anfang der 1960er-Jahre ein überzeugendes Nachweisverfahren zum Unterscheiden von Mengen entwickelte, und zwar bei Ratten.[10]

Mechner schloss jeden möglichen Einfluss des Versuchsleiters auf das Verhalten der Testtiere dadurch aus, dass er eine so genannte Skinner-Box benutzte. Hungrige Ratten fanden in dieser geschlossenen Versuchsapparatur zwei Hebel vor, die sie mit Schnauze oder Pfoten drücken konnten. Wurde Hebel 2 gedrückt, gab ein Automat ein wenig Futter frei – allerdings nur dann, wenn zuvor auch Hebel 1 gedrückt worden war. In unterschiedlichen Versuchsansätzen wurde die Zahl der nötigen Hebeldrücke auf Hebel 1 variiert: Einige Tiere erhielten ihre Futterbelohnung erst, wenn sie zum Beispiel viermal Hebel 1 und danach Hebel 2 drückten, andere Tiere mussten achtmal Hebel 1 und dann erst Hebel 2 drücken, um etwas Futter zu erhalten.

Nach einigem Training drückten die Testtiere tatsächlich im Mittel vier- bzw. achtmal Hebel 1 und dann erst Hebel 2; auch 12- und 16-faches Hebeldrücken konnten ihnen beigebracht werden, wobei aber nicht jedes Testtier immer genau die vom Versuchsleiter vorgegebene Anzahl drückte. Rund 75 Prozent der 4er-Gruppe drückten drei bis sechs Mal den Hebel, in der 8er-Gruppe drückten etwa 75 Prozent der Testtiere sieben bis elf Mal den Hebel. Hieraus kann man ableiten, dass Ratten nur relativ grob eine bestimmte, erforderliche Anzahl von Aktionen erlernen können. Um auszuschließen, dass die Testtiere statt der Anzahl der Hebeldrücke eine bestimmte Zeitdauer kontinuierlichen Hebeldrückens lernten, wurden unterschiedlich hungrige Ratten getestet: Je hungriger die Tiere waren, desto hektischer drückten sie zwar die Hebel, ohne dass sich dies aber auf die Anzahl der Hebeldrücke auswirkte.

Andere Ratten wurden in einem Tunnelsystem darauf dressiert, jeweils die vierte Abzweigung nach links zu wählen, und zwar unabhängig von den Abständen zwischen den Abzweigungen.[11]

Zwei Forscher der Brown University, Russell Church und Warren Meck, veröffentlichten 1984 eine Studie, die nahelegt, dass Ratten nicht nur lernen können, eine bestimmte Anzahl von Hebeldrücken in einer bestimmten Situation auszuführen. Vielmehr können sie das Gelernte auch auf eine neue Situation übertragen; vermenschlichend ausgedrückt könnte man sagen: Die Tiere verallgemeinern das gelernte Verhalten. Die Forscher brachten den Tieren zunächst bei, nach zwei Tönen den linken Hebel zu drücken und nach vier Tönen den rechten. Danach lernten die Tiere zusätzlich, nach zwei Lichtblitzen den linken Hebel zu drücken und nach vier Lichtblitzen den rechten. Schließlich wurden den Ratten während einiger Tests sowohl Töne als auch Lichtblitze präsentiert, und die Ratten drückten den linken Hebel auch dann, wenn ihnen ein Lichtblitz plus ein Ton bzw. den rechten, wenn zwei Lichtblitze plus zwei Töne dargeboten wurden.[12]

Honigbienen

Honigbienen (Apis mellifera) sind bekannt dafür, dass sie sich an Landmarken orientieren, wenn sie wiederholt ertragreiche Futterpflanzen anfliegen. Forscherinnen der Australian National University trainierten Bienen darauf, in einen Tunnel zu fliegen, in dem gelbe Striche oder Punkte als Markierung für eine bestimmte Anzahl von Futterstellen dienten. Die Versuchsbienen lernten, eine bestimmte Futterstelle (an der ersten, zweiten oder dritten usw. Markierung) anzufliegen, wobei die Abstände zwischen den Markierungen und die Form der Markierungen veränderlich waren. Der eigentliche Test bestand darin, dass die trainierten Bienen in den Tunnel flogen, ohne dass an der gewohnten Futterstelle Futter bereit lag. Die Tests ergaben, dass Bienen sich die Anzahl zu überfliegender Landmarken – unabhängig von deren Form und deren Entfernung zueinander – merken können, jedoch nicht mehr als vier Landmarken. [13]

Ein gemeinsames Experiment von Forschern der Australian National University und der Würzburger Arbeitsgruppe von Jürgen Tautz ergab zudem, dass Honigbienen Mengen von bis zu vier Symbolen unterscheiden können, nicht aber größere Mengen wie vier gegen fünf oder vier gegen sechs Symbole. [14] Die Bienen lernten zunächst, dass hinter einer Tafel, auf der zwei blaue Punkte abgebildet waren, eine Belohnung (Zuckerwasser) versteckt war. Den so konditionierten Testtieren wurde dann zugleich eine Tafel mit zwei Symbolen und eine weitere Tafel mit beispielsweise vier Symbolen zur Auswahl gestellt: Die trainierten Tiere flogen jeweils die Tafel mit den zwei Symbolen an. In weiteren Experimenten konnten die Bienen auf Mengen bis zu vier Symbole konditioniert werden. Außerdem wurden Testtieren, die auf eine bestimmte Menge blauer Punkte konditioniert waren, beispielsweise Tafeln mit gelben Sternen oder grünen Blättern zur Auswahl gestellt: Auch unter solchen veränderten Bedingungen blieb die Unterscheidungsfähigkeit für die zuvor gelernte Menge erhalten. Die Autoren erläuterten, dass ihre Studie erstmals bei Insekten die Fähigkeit zum Unterscheiden von Mengen nachgewiesen habe.

Fische

Gambusen („Moskitofische“) der Art Gambusia holbrooki schließen sich, wann immer möglich, zu Schwärmen zusammen, wobei Einzeltiere jeweils zum größten von mehreren Schwärmen schwimmen. Psychologen der Universität Padua nutzten dieses Verhalten, um zu testen, wie groß die Differenz zwischen zwei Schwärmen sein muss, um von einem einzelnen Tier noch unterschieden zu werden. Sie wiesen nach, dass im Labor gehaltene Fische Schwärme von 3 Individuen gegen solche von 4 Individuen unterscheiden können, nicht aber ein Verhältnis von 4:5.[15] Auch ein Verhältnis von 2:4, 4:8 und 8:16 erwies sich als unterscheidbar.[16] Eine weitere Studie ergab, dass diese Tiere auch kleine Mengen von abstrakten Symbolen (2:3) unterscheiden können.[17]

Amphibien

Auch Salamander der Art Plethodon cinereus, also Amphibien, können unterschiedlich große Mengen voneinander unterscheiden. Dies geht aus einer Studie hervor, die eine Forschergruppe um Claudia Uller[18] von der University of Louisiana at Lafayette im Jahr 2003 in der Zeitschrift Animal Cognition publizierte. Den Testtieren wurde jeweils gleichzeitig in zwei Glasröhren eine unterschiedlich große Anzahl von Fruchtfliegen als Futter dargeboten, zum Beispiel eine Fliege im einen Röhrchen und zwei Fliegen im anderen Röhrchen. Die Testtiere waren ohne vorheriges Training in der Lage, diese unterschiedlich großen Futtermengen voneinander zu unterscheiden und das Röhrchen mit der größeren Anzahl Fliegen anzusteuern. Sie waren in der Lage, sowohl das Verhältnis von 1:2 als auch von 2:3 zu unterscheiden, nicht aber das Verhältnis von 3:4 und von 4:6.

Die Forscher deuteten die Ergebnisse ihrer Arbeit als Ausdruck einer im Tierreich weit verbreiteten Tendenz, jeweils die größere Futtermenge aufzusuchen. Diese Neigung sei angeboren, da sie ohne Übung auftrete und setze mindestens voraus, dass eine größere Futtermenge von einer kleineren unterschieden werden könne. Bei kleinen Mengen beruhe diese Unterscheidungsfähigkeit aber nicht auf bloßem Abschätzen, sondern auf genauem Unterscheiden der Unterschiede. Da das Verhältnis 2:3 unterschieden werde, nicht aber das Verhältnis 4:6 gehen die Forscher davon aus, dass tatsächlich die genaue Anzahl der Objekte (2 oder 3) das Verhalten der Tiere beeinflusste und nicht allein das mengenmäßige Verhältnis der Futtertiere in den beiden Glasröhrchen. Bei Salamandern scheint die zuverlässig unterscheidbare Anzahl von Objekten also bei maximal 3 zu liegen.

Vögel

Küken

Küken von Haushühnern verfügen, wenn sie aus dem Ei schlüpfen, über kein angeborenes Bild ihrer Artgenossen; vielmehr lernen sie diese erst unmittelbar nach dem Schlüpfen – durch Prägung – zu erkennen. Im Experiment können Küken daher auch auf Menschen oder auf unbelebte Gegenstände geprägt werden. Zudem schließen sich Küken, wann immer möglich, der jeweils größten von mehreren Gruppen ihrer Artgenossen an. Beide Sachverhalte nutzten Forscher der Universität Padua, um das Zählvermögen frisch geschlüpfter, weitestgehend erfahrungsloser Küken zu testen. Sie prägten die Küken zunächst auf kleine Bälle und setzen die Tiere danach auf ein Podest, von dem aus sie zwei Gruppen dieser Bällchen sehen konnten. Anschließend wurden die Bällchen jeweils hinter einen Schirm gelegt, so dass sie von den Küken nicht mehr wahrgenommen werden konnten. Danach wurden – für die Küken sichtbar – einzelne Bällchen vom einen Versteck ins andere gelegt. Durch diesen Versuchsaufbau sollte geklärt werden, ob die Küken mitzählen, wo sich nach den Umlagerungen die größte Anzahl ihrer „Artgenossen“ versteckt hat. Tatsächlich suchten die Küken nach solchen Umlagerungen jeweils die größere Gruppe von Bällchen auf. [19] Ohne jedes vorherige Lernen konnten die Küken entscheiden, dass 4 minus 2 kleiner war als 1 plus 2, dass 0 plus 3 größer war als 5 minus 3 und dass 4 minus 1 größer war als 1 plus 1. Demnach scheint bei ihnen die Fähigkeit zum Addieren und Subtrahieren eine angeborene Eigenschaft zu sein.

Tauben

Auch aus Experimenten an Tauben ist bekannt, dass sie kleine Mengen präziser voneinander unterscheiden als große Mengen. Der kanadische Forscher William Roberts analysierte daher eine analoge Form der Reizverarbeitung: das Verhalten in Abhängigkeit von der Dauer eines Reizes.[20] Er dressierte Tauben darauf, gegen einen roten Hebel zu picken, wenn eine Lichtquelle kurz (z. B. 1 Sekunde) leuchtete. Wenn die Lichtquelle aber lang (z. B. 16 Sekunden) leuchtete, mussten sie gegen einen grünen Hebel picken. Man hätte nun erwarten können, dass bei mittlerer Leuchtdauer von 8 oder 9 Sekunden von kurz auf lang (d.h. vom roten auf den grünen Hebel) gewechselt wird oder dass die Testtiere verwirrt sind und nur rein zufällig mal gegen rot und gegen grün picken. Tatsächlich geschah der Wechsel aber bei 4 Sekunden. Ferner wurde beobachtet, dass die Tiere eine Lichtdauer von 1 zu 4 Sekunden besser unterscheiden konnten als eine Lichtdauer von 13 zu 16 Sekunden, während sie 9 gegen 10 Sekunden besser unterscheiden konnten als 7 zu 8 Sekunden. Der Forscher deutete diese Befunde dahingehend, dass eine Zeitspanne im Gehirn der Tauben nicht gleichförmig (linear) verarbeitet wird, sondern gewissermaßen logarithmisch. Würden die Tauben Zeitintervalle linear verarbeiten, müssten sie 1- oder 4-Sekunden-Intervalle jeweils gleich genau unterscheiden können. Bei einer logarithmus-ähnlichen Reizverarbeitung hingegen würden ein 13:16-Intervall kleiner erscheinen als ein 1:4-Intervall, was die beobachtete Ungenauigkeit beim Unterscheiden des 13:16-Intervalls im Vergleich zum 1:4-Intervall erklären würde.

In einer weiteren Studie wurde Tauben auf einem Bildschirm eine unterschiedliche Anzahl unterschiedlich geformter Symbole gezeigt, zum Beispiel 4 gelbe Ovale, 8 grüne Quadrate, 5 blaue Punkte. Projiziert wurden jeweils zugleich zwei unterschiedlich große Mengen und unterschiedliche Symbole. Die Tauben lernten mit einer Genauigkeit von im Mittel 80 Prozent, jeweils zunächst die kleinere Menge – unabhängig von deren Form – durch Picken anzuzeigen und anschließend die größere Menge.[21]

Langbeinschnäpper

Frei lebende neuseeländische Langbeinschnäpper (Petroica australis) können einer Studie von Forschern der Victoria University zufolge Mengen wie beispielsweise 1 gegen 2, 2 gegen 3 und 4 gegen 6 unterscheiden.[22] Forscher der Arbeitsgruppe von Simon Hunt hatten in freier Natur 14 Langbeinschnäpper getestet. Bei jedem Test wurden zwei unterschiedlich große Mengen von Würmern in zwei Gefäße gelegt und anschließend den Vögeln zum Fressen dargeboten. Die Vögel konnten stets beobachten, welche Anzahl von Würmern in das jeweilige Testgefäß gelegt wurde. Die Vögel suchten danach mit hoher Treffsicherheit das Gefäß mit der größeren Futtermenge auf: Bei der Alternative 1 Wurm gegen 2 Würmer wurden in fast 90 Prozent der Tests zunächst die 2 Würmer gefressen. Bei den Alternativen 2 gegen 3, 3 gegen 4 und 4 gegen 8 lag die Trefferquote noch bei 80 Prozent. Erst bei höheren Kombinationen (wie 6 gegen 8) näherte sich die Trefferquote dem Zufallswert von 50 Prozent.

In einem zweiten Test wurden bestimmte unterschiedliche Mengen von Würmern in die Testgefäße gesteckt, einige davon verschwanden jedoch durch eine Falltür aus dem Gefäß. Anschließend zeigte sich erneut, dass die Vögel zunächst das Gefäß mit der anfangs größeren Wurmzahl anflogen. Sie hielten sich an diesem Gefäß jedoch beispielsweise viermal so lange auf, wenn zunächst 2 Würmer darin gelegen hatten, die Vögel aber nur einen fanden, als wenn von Beginn an nur 1 Wurm darin abgelegt worden war. Die Forscher schlossen daraus, dass die Tiere tatsächlich mitgezählt und eine bestimmte Menge an Würmern erwartet hatten.

Graupapageien

Die Fähigkeiten von Graupapageien, unterschiedlich große Mengen voneinander zu unterscheiden, untersucht seit mehr als 25 Jahren die US-amerikanische Wissenschaftlerin Irene Pepperberg. Ihr Graupapagei Alex (1976–2007) lernte unter anderem, 50 ihm dargebotene Objekte korrekt durch eine spezielle Lautäußerung zu bezeichnen, dazu sieben Farben und fünf Formen.[23]

Ihren Angaben zufolge konnte Alex auch einfache Additionen vornehmen und bis sechs zählen.[24] In einem Experiment, bei dem zwei, drei und sechs verschiedenfarbige Objekte vor ihm lagen und er gefragt wurde, welche Farbe fünf (gleichfarbige) Objekte haben, antwortete Alex: None (‚keine‘). Hieraus schlussfolgerte die Forscherin ein zero-like concept (‚null-ähnliches Konzept‘) bei Alex und betonte zugleich, dass Null und Nichts keineswegs identisch seien.[25]

Waschbären

Stanislas Dehaene berichtet in seinem Buch Der Zahlensinn von einem Experiment, in dem Waschbären lernten, Rosinen aus einem durchsichtigen Kasten zu entnehmen – und zwar immer aus jenem Kasten, der drei Rosinen enthielt und nicht aus einem der benachbarten Kästen, in denen zwei oder vier Rosinen lagen.

Amerikanische Schwarzbären

Drei Schwarzbären wurden vor einem Touchscreen darauf trainiert, unterschiedliche Mengen von sich bewegenden oder unbeweglichen Punkten zu unterscheiden. Dies gelang allen drei Tieren.[26]

Rhesusaffen

1998 wiesen Elizabeth M. Brannon und Herbert S. Terrace in einer viel zitierten Studie bei Rhesusaffen nach, dass sie größere von kleineren Mengen unterscheiden können.[27]

Die Arbeitsgruppe Primaten-Neurokognition von Andreas Nieder (Hertie-Institut für klinische Hirnforschung an der Universität Tübingen) untersuchte nicht-sprachliche Vorformen von numerischer Kompetenz bei Rhesusaffen.[28] So trainierte sein Team in einem Test zwei Rhesusaffen darauf, bestimmte Mengen von Punkten zu unterscheiden, die ihnen auf einem Computerbildschirm gezeigt wurden. Zum Beispiel zeigte man den Tieren einen Kreis mit vier Punkten und nach einer Pause einen anderen Kreis, in dem sich entweder ebenfalls vier oder aber drei oder fünf Punkte befanden. Wenn die als zweites gezeigte Menge mit der ersten identisch war, ließ der Affe einen Hebel los und bekam eine Belohnung. War die Punktzahl unterschiedlich, hielt das Testtier den Hebel weiterhin und so lange gedrückt, bis ihm die identische Punktzahl präsentiert wurde.

Zugleich registrierten die Forscher mit Hilfe implantierter Mikroelektroden die Aktivität einzelner Nervenzellen in bestimmten Gehirnbereichen der Testtiere, in denen numerische Informationen verarbeitet werden: im Sulcus intraparietalis – einem Bereich im Scheitellappen der Großhirnrinde – sowie um den Präfrontalen Cortex, einem Bereich des Stirnlappens. Nieders Team fand heraus, dass numerische Informationen zunächst im Sulcus intraparietalis verarbeitet werden und von diesem „vermutlich zum Präfrontalkortex weitergeleitet“ werden, wo sie verstärkt und im Kurzzeitgedächtnis behalten werden und so für die Kontrolle des Verhaltens bereitstehen. Ferner konnte auf diese Weise nachgewiesen werden, dass einzelne Nervenzellen auf die Verarbeitung bestimmter Mengen ‚geeicht‘ sind: Sie feuern dann besonders intensiv, wenn dem Tier ‚ihre‘ Menge präsentiert wird. Bestimmte Neurone haben demnach eine bestimmte ‚Lieblingsmenge‘.[29]

In einer weiteren Studie wurde nachgewiesen, dass 20 Prozent der im präfrontalen Cortex von Rhesusaffen lokalisierten Neuronen aktiv sind, wenn die Testtiere zur Unterscheidung von Mengen angeregt werden.[30] Die Forscher hatten zwei Affen darauf trainiert, einen Hebel zu bewegen, wenn die Menge von Punkten auf einem Bild größer war als eine zuvor gezeigte bzw. wenn sie kleiner war als eine zuvor gezeigte. Im präfrontalen Cortex waren jeweils voneinander unterscheidbare Gruppen von Neuronen aktiv, abhängig davon, ob eine gezeigte Menge kleiner oder größer war als eine zuvor gezeigte.

Im Dezember 2007 berichteten zwei Forscherinnen der Duke University, dass Rhesusaffen-Weibchen und Studenten einfache Additionsaufgaben vergleichbar zuverlässig lösen können. [31] Den Probanden wurden auf einem Touchscreen Gruppen von Punkten gezeigt, beispielsweise eine halbe Sekunde lang fünf Punkte, nach einer kurzen Pause drei Punkte und nach einer weiteren kurzen Pause zwei Kästchen mit acht bzw. vier Punkten. Wenn das korrekte Kästchen angetippt wurde, gab es für die beiden Testtiere Fruchtsaft als Belohnung, die zwölf Studenten wurden pauschal honoriert. Insgesamt mussten von jedem Teilnehmer 40 derartige Additionsaufgaben gelöst werden. Die Menschen lösten 95 Prozent der Aufgaben, die Affen 75 Prozent. Fehler entstanden am ehesten, wenn die beiden angebotenen Lösungen sehr nah zu einander waren, also zum Beispiel aus 11 bzw. 12 Punkten bestanden.

Schimpansen

David Premack veröffentlichte 1981 zusammen mit Guy Woodruff in der Zeitschrift Nature eine Studie, die nahelegt, dass Schimpansen mit Bruchteilen von Mengen operieren können. Den Testtieren wurde beispielsweise ein halbvolles Glas gezeigt, und sie mussten dann auf ein anderes halbvolles Glas deuten und nicht auf ein zu Dreivierteln gefülltes. Nachdem die Tiere dies gelernt hatten, wurde ihnen ein halbvolles Glas gezeigt, danach aber ein halber Apfel und ein Dreiviertel-Apfel. Obwohl Äpfel und Gläser völlig anders aussehende Gegenstände sind, wiesen die Testtiere auf den halben Apfel; vermenschlichend ausgedrückt könnte man sagen: Die Schimpansen wussten, dass sich ein halber Kuchen zu einem ganzen Kuchen verhält wie das zur Hälfte gefüllte Glas zu einem ganzen Glas. Mit ähnlichem Erfolg konnten sie 1/4 und 3/4 unterscheiden. Wurde den Tieren in einem weiteren Experiment ein halbvolles Glas und zugleich ein Viertel-Apfel gezeigt, wurde anschließend sogar häufiger auf einen Dreiviertel-Kreis gedeutet als auf einen ganzen Kreis.[32]

Im Jahre 1988 wurde die Schimpansin Sheba von Sally Boysen im Ohio State University Chimpanzee Center im Umgang mit Mengen und Zahlen trainiert. Sie war das erste Tier, bei dem man das Verständnis der Bedeutung von Null nachweisen konnte. Sie beherrscht die Zahlen bis 8 und hat in diesem Zahlenraum spontan Additionen ausgeführt. Nach Sheba wurden an der Ohio State University auch andere Schimpansen in vergleichbarer Weise mit dem Zählen und dem Benennen von Mengen vertraut gemacht. Dies geschah dadurch, dass den Tieren zum Beispiel beigebracht wurde, zunächst eine gewisse Anzahl Orangen einzusammeln und danach auf jene Zahl zu deuten, die der Menge an Orangen entsprach - also zum Beispiel nach dem Aufsammeln von vier Orangen auf die Ziffer 4 zu deuten. Sheba ist zudem das einzige bisher bekannte Tier, das Zahlen auch rein symbolisch addieren konnte: Wurde ihr die Ziffer 2 auf einem Bild gezeigt und die Ziffer 4 auf einem anderen, war sie vom ersten Versuch an in der Lage, anschließend auf die Ziffer 6 zu deuten.[33] Anfang 2006 wurde das 1983 von Sally Boysen gegründete Ohio State University Chimpanzee Center aus Geldmangel aufgelöst und die Tiere in einem Primatenzentrum in Texas untergebracht.[34]

Am Primate Research Institute der Universität von Kyōto wurden gleichfalls Tests mit mehreren Schimpansen durchgeführt, die vergleichbare Ergebnisse erbrachten: Die Schimpansin Ayumu und fünf weitere Tiere können die auf einem Bildschirm beliebig angeordneten Zahlen von 1 bis 9 aufsteigend und in korrekter Reihenfolge mit dem Finger anzeigen, und eines der Tiere mit Namen Ai kann dies sogar von 0 bis 9.[35]

Dieser Erfolg wurde allerdings erst nach jahrelangem Training erzielt. Ai hatte zunächst die Bedeutung der arabischen Ziffer 1 gelernt. Als dann auch die Ziffer 2 eingeführt wurde, stellte sich heraus, dass 2 zunächst von ihr im Sinne von mehr als 1 verwendet wurde. Nachdem sie die arabische Ziffer 2 sicher anwenden konnte, wurde die Ziffer 3 ins Trainingsprogramm aufgenommen: Auch die Zahl 3 wurde von dem Tier zunächst im Sinne von mehr als 2 benutzt. Jede einzelne Zahl bis hin zur 9 musste auf diese Weise in langen Trainingsphasen erlernt werden.

Dieses Lernverhalten ist vergleichbar mit dem ca. 30 Monate alter Menschenkinder. Fünfjährige Kinder hingegen verfügen bereits über ein hinreichend großes Abstraktionsvermögen, das es ihnen ermöglicht, selbst sehr große Zahlen kreativ zu benutzen, die außerhalb ihrer normalen Erfahrungswelt liegen.

Biologische und soziale Grundlagen beim Menschen

Bogdanow-Belski: Beim Kopfrechnen

Ob sich die Fähigkeit zum Unterscheiden von Mengen im Verlauf der Stammesgeschichte mehrfach unabhängig voneinander (also konvergent) entwickelte oder ob bereits die gemeinsamen Vorfahren von Bienen, Vögeln und Menschen hierzu in der Lage waren, ist unbekannt.[36] Auch über das Zahlenverständnis oder gar die mathematischen Fähigkeiten der Vormenschen und der frühen, nicht-schriftlichen Kulturen ist nichts bekannt. Die ersten Nachweise beim Menschen sind der Ishango-Knochen sowie Aufzeichnungen der Sumerer und alten Ägypter. Sie entwickelten u. a. Systeme zum Umgang mit großen Zahlen, zum Beispiel für die Vorratswirtschaft. Sicher ist allerdings, dass die Fähigkeit zum Umgang mit Mengen und Zahlen auch beim Menschen auf bestimmten angeborenen Eigenschaften des Gehirns beruht. Sind die hierfür tätigen Bereiche des Gehirns zum Beispiel durch eine Verletzung gestört, kann dies zum Krankheitsbild der Dyskalkulie führen. US-Forscher wiesen einen Zusammenhang zwischen dem Abschätzen von Mengen und dem Lösen von Mathematik-Aufgaben bei 5- bis 14-jährigen Kindern nach.[37]

Für ein angeborenes Erkennen von Mengen auch beim Menschen spricht eine Studie französischer Forscher, die 2008 publiziert wurde.[38] Bei 36 drei Monate alten Babys hatten sie die Hirnströme registriert, während den Babys Bilder auf einem Bildschirm dargeboten worden waren. Auf den Bildern waren abwechselnd unterschiedliche Gegenstände abgebildet, auf jedem einzelnen Bild aber jeweils die gleichen Gegenstände und in der Regel eine bestimmte Anzahl davon, also zum Beispiel vier Enten; gelegentlich wurde jedoch eine abweichende Anzahl projiziert. Nachweisbar war auf diese Weise, dass eine Abweichung von der üblichen Anzahl projizierter Gegenstände zu einer Veränderung der Aktivitäten in einer bestimmten Hirnregion führte, und zwar in einer anderen Region, als dies bei einer Veränderung der abgebildeten Gegenstände unter Beibehaltung von deren Anzahl der Fall war.

Dass die Wahrnehmung von unterschiedlich großen Mengen und die Fähigkeit zum Rechnen im Gehirn eng miteinander verbunden sind, legt eine Studie an Kleinkindern nahe, die im Jahr 2006 veröffentlicht wurde.[39] Sechs- bis neunmonatigen Kleinkindern hatten die Forscher der Ben-Gurion-Universität des Negev auf einem Bildschirm zunächst jeweils mehrfach die gleiche Anzahl von Puppen gezeigt (entweder eine Puppe oder zwei). Danach wurde ihnen jeweils eine Puppe zu viel bzw. zu wenig gezeigt. Diese Abweichung führte dazu, dass die Kleinkinder den Bildschirm ca. eine Sekunde länger fixierten als zuvor. Für die Forscher war das ein Hinweis darauf, dass die Kinder die unterschiedlichen Anzahlen wahrgenommen hatten. Solche Experimente hatte Michael Posner schon 15 Jahre zuvor mit gleichem Ergebnis durchgeführt, allerdings waren seine Deutungen immer wieder infrage gestellt worden. Daher hatte sein Team diesmal zusätzlich zur Beobachtung der Augen den Kindern ein spezielles Messsystem mit 128 Elektroden zur Aufzeichnung der Hirnströme angelegt. Wie die Forscher berichteten,[39] wiesen die Hirnstrommessungen deutliche Parallelen zu Messungen des erwachsenen Gehirns beim Rechnen auf. Auch eine Studie mit Vorschulkindern, die noch keinen Mathematikunterricht gehabt hatten, erbrachte Hinweise auf eine positive Korrelation zwischen dem korrekten Abschätzen von Mengen und weitergehenden mathematischen Fähigkeiten.[40] Zudem gibt das Krankheitsbild des Gerstmann-Syndroms Hinweise darauf, dass ein enger neuropsychologischer Zusammenhang zwischen Zahlenverständnis und Schwierigkeiten beim Benennen und Identifizieren der eigenen Finger besteht;[41] möglicherweise begann das Zählen daher – stammesgeschichtlich betrachtet – unter Zuhilfenahme der Finger, was wiederum das verbreitete 10er-System erklären würde.[41]

Wenn Erwachsene – ohne zu zählen – die Anzahl von Objekten benennen sollen, werden Mengen größer als 4 zunehmend fehlerhaft erkannt;[42] erstmals wurde dies bereits 1871 in der Fachzeitschrift Nature berichtet.[43] Diese Beobachtungen stehen in Einklang mit frühen schriftlichen Überlieferungen aus der alten griechischen Stadt Karystos sowie der Kreter, Hethiter, Phönizier und aus dem China der Yin-Dynastie, in denen nur die Mengen 1 bis 4 durch vertikale (Mittelmeerraum) bzw. horizontale Striche (China) dargestellt, für die Mengen 5 und größer jedoch hiervon abweichende Zeichen benutzt wurden.[44]

Stanislas Dehaene berichtete 2008 von Untersuchungen bei den Munduruku, einem indigenen Volk im brasilianischen Amazonas-Gebiet.[45] Die Munduruku besuchen keine Schulen und kennen nur Worte für die Zahlen eins bis fünf; größere Objektmengen werden pauschal als „einige“ oder „viele“ bezeichnet. Dehaene bat seine Testpersonen, unterschiedlichen Punkt-Mengen – jeweils zwischen 1 und 10 Punkten, in einem zweiten Test zwischen 10 und 100 Punkten – eine Position auf einer Geraden zuzuweisen. Während europäische Testpersonen 5 bzw. 50 Punkte recht genau in der Mitte der Geraden anordnen, wurden die 5 bzw. 50 Punkte von den indigenen Testpersonen stets näher bei 10 bzw. 100 angeordnet. Da eine vergleichbare „Stauchung“ größerer Mengen auch bei europäischen Kindern nachgewiesen wurde, schloss Dehaene aus seinen Befunden, dass die ursprüngliche intuitive Zuordnung der Mengen logarithmisch ist. Das Konzept der linearen Anordnung bezeichnete er als kulturelle Errungenschaft, die sich in Abwesenheit von formeller Ausbildung nicht entwickelt.[46]

Auf kulturelle Einflüsse beim Erkennen und Benennen von großen Mengen wies auch eine Studie an Nutzern der nicaraguanischen Gebärdensprache hin. Bei Mengen größer als drei wurden diese Personen ungenau und zeigten beispielsweise neun Finger für die Menge „10“; Nutzer der American Sign Language wiesen solche Ungenauigkeiten hingegen in der Regel nicht auf.[47] Beide Gruppen leben in einem sozialen Umfeld, in dem der Umgang mit großen Zahlen und Mengen üblich ist.

Siehe auch

Literatur

  • Stanislas Dehaene: Der Zahlensinn oder Warum wir rechnen können. Birkhäuser Verlag, Basel, 1999, ISBN 3-7643-5960-9
  • Hans Joachim Gross: Können Tiere zählen? Die magische Zahl Vier und das angeborene Zahlenverständnis von Mensch und Tier. In: Biologie in unserer Zeit. Band 42, Nr. 4, 2012, S. 232–237, doi:10.1002/biuz.201210483
  • Ute Seibt: Zahlbegriff und Zahlverhalten bei Tieren. In: Zeitschrift für Tierpsychologie Band 60, 1982, S. 325 - 341

Einzelnachweise

  1. „The ability to represent time and space and number is a precondition for having any experience whatsoever.“ So der Co-Direktor des Rutgers Center for Cognitive Science, Randy Gallistel, zitiert in: Ewen Callaway: Animals that count. In: New Scientist vom 20. Juni 2009, S. 37
  2. Otto Frank: Die sogenannten denkenden Tiere. In: Deutsche Medizinische Wochenschrift. Band 40, Nr. 24, 1914, S. 1224–1226
  3. Dr. Wilhelm Neumann: Ueber den denkenden Hund Rolf von Mannheim. In: Münchner Medizinische Wochenschrift, Band 31, 1916, S. 1226 f. (eine detaillierte, kritische Analyse der angeblichen Denkleistungen von Rolf)
  4. Zeitschrift für Tierpsychologie, Band 35, S. 449 ff.
  5. vom „sprechenden Hund Don“ ist im Phonogramm-Archiv des Ethnologischen Museums der Staatlichen Museen zu Berlin sogar eine Tonaufnahme aus dem Jahr 1912 überliefert
  6. Karl Krall: Denkende Tiere. Beiträge zur Tierseelenkunde auf Grund eigener Versuche. Der kluge Haus und meine Pferde Muhamed und Zarif. Friedrich Engelmann, Leipzig 1912, S. 1–83. online
  7. Claudia Uller, Jennifer Lewis: Horses (Equus caballus) select the greater of two quantities in small numerical contrasts. In: Animal Cognition. Band 12, Nr. 5, 2009, S. 733–738, doi:10.1007/s10071-009-0225-0
  8. Otto Koehler: „Zähl“-Versuche an einem Kolkraben und Vergleichsversuche an Menschen. In: Zeitschrift für Tierpsychologie, Band 5, 1943, S. 575-712; vergl. auch Dehaene, Zahlensinn, S. 28. – Ferner lernten Eichhörnchen, unter mehreren Deckeln mit gleicher Punktzahl den einzig anderen zu wählen.
  9. Zeitschrift für Tierpsychologie, Band 35, S. 229 ff.
  10. F. Mechner: Effects of deprivation upon counting and timing in rats. In: Journal of the Experimental Analysis of Behavior, Band 5, 1962, S. 463–466
  11. Dehaene, Zahlensinn, S. 29
  12. Russell M. Church und W. H. Meck: The numerical attribute of stimuli. In: H. L. Roitblat, T. G. Bever und H. S. Terrace (Hg.): Animal cognition. Erlbaum, Hillsdale, NJ, 1984, S. 445–464
  13. Marie Dacke, Mandyam V. Srinivasan: Evidence for counting in insects. In: Animal Cognition. Band 11, Nummer 4, 2008, S. 1435–9448, doi:10.1007/s10071-008-0159-y
  14. Hans J. Gross, Mario Pahl, Aung Si, Hong Zhu, Jürgen Tautz und Shaowu Zhang (2009): Number-Based Visual Generalisation in the Honeybee. In: PLoS ONE. Band 4, Nr. 1: e4263, doi:10.1371/journal.pone.0004263
  15. Christian Agrillo et al.: Do fish count? Spontaneous discrimination of quantity in female mosquitofish. In: Animal Cognition. Band 11, 2008, S. 495–503, doi:10.1007/s10071-008-0140-9
  16. Christian Agrillo et al.: Quantity discrimination in female mosquitofish. In: Animal Cognition. Band 10, Nr. 1, 2007, S. 63–70, doi:10.1007/s10071-006-0036-5
  17. Christian Agrillo et al.: Use of Number by Fish. In: PLoS ONE. Band 4, Nr. 3: e4786, 2009; Volltext: doi:10.1371/journal.pone.0004786
  18. Claudia Uller et al.: Salamanders (Plethodon cinereus) go for more: rudiments of number in an amphibian. In: Animal Cognition. Band 6, 2003, S. 105-112, doi:10.1007/s10071-003-0167-x, Volltext
  19. Rosa Rugani et al.: Arithmetic in newborn chicks. In: Proceedings of the Royal Society B. Band 276, 2009, S. 2451–2460, doi:10.1098/rspb.2009.0044
  20. William A. Roberts: How do pigeons represent numbers? Studies of number scale bisection. In: Behavioural Processes, Band 69, Nr. 1, 2005, S. 33–43
    William A. Roberts: Evidence that pigeons represent both time and number on a logarithmic scale. In: Behavioural Processes. Band 72, Nr. 3, 2006, S. 207–214, doi:10.1016/j.beproc.2006.03.002
  21. Damian Scarf, Harlene Hayne und Michael Colombo: Pigeons on Par with Primates in Numerical Competence. In: Science. Band 334, Nr. 6063, 2011, S. 1664, doi:10.1126/science.1213357
  22. Simon Hunt, Jason Low, K.C. Burns: Adaptive numerical competency in a food-hoarding songbird. In: Proceedings of the Royal Society B. Band 275, Nr. 1649, 2008, S. 2373–2379, doi:10.1098/rspb.2008.0702
  23. Süddeutsche Zeitung, Nr. 210 vom 12. September 2007, S. 18
  24. Webseite von The Alex Foundation: Alex "The" African Grey. 1976 to 2007 (englisch), zuletzt geprüft am 18. April 2011
  25. Webseite der Brandeis University: No average bird (5. Juli 2005, englisch), zuletzt geprüft am 18. April 2011
  26. Jennifer Vonk und Michael J. Beran: Bears ‚count‘ too: quantity estimation and comparison in black bears, Ursus americanus. In: Animal Behaviour. Band 84, Nr. 1, 2012, S. 231–238, doi:10.1016/j.anbehav.2012.05.001
  27. Elizabeth M. Brannon und Herbert S. Terrace: Ordering of the Numerosities 1 to 9 by Monkeys. In: Science. Band 282, Nr. 5389, 1998, S. 746–749, doi:10.1126/science.282.5389.746
  28. A. Nieder, D.J. Freedman und E.K. Miller: Representation of the quantity of visual items in the primate prefrontal cortex. In: Science. Band 297, 2002, S. 1708–1711, doi:10.1126/science.1072493
  29. Pressemitteilung der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften vom 10. Juli 2006 aus Anlass eines Vortrags von Andreas Nieder auf dem Forum 2006 der Federation of European Neuroscience Societies (FENS) in Wien
  30. Sylvia Bongard, Andreas Nieder: Basic mathematical rules are encoded by primate prefrontal cortex neurons. In: PNAS. Band 107, Nr. 5, 2010, S. 2277–2282, doi:10.1073/pnas.0909180107
  31. Jessica F. Cantlon, Elizabeth M. Brannon: Basic Math in Monkeys and College Students. In: PLoS Biol. Band 5, Nr. 12: e328, 2007, doi:10.1371/journal.pbio.0050328
  32. Guy Woodruff, David Premack: Primative mathematical concepts in the chimpanzee. In: Nature. Band 293, 1981, S. 568–570, doi:10.1038/293568a0
  33. Dehaene, Zahlensinn, S. 50
  34. OHIO STATE TO CLOSE ITS PRIMATE CENTER, RETIRE ITS CHIMPANZEES
  35. Die Webseite der Schimpansin Ai in Kyoto
  36. Ewen Callaway: Animals that count. In: New Scientist vom 20. Juni 2009, S. 39
  37. Justin Halberda, Michèle M. M. Mazzocco, Lisa Feigenson: Individual differences in non-verbal number acuity. In: Nature. Band 455, 2008, S. 665–668, doi:10.1038/nature07246
  38. Véronique Izard, Ghislaine Dehaene-Lambertz und Stanislas Dehaene: Distinct Cerebral Pathways for Object Identity and Number in Human Infants. In: PLoS Biology. Band 6, Nr. 2, e11, doi:10.1371/journal.pbio.0060011
  39. 39,0 39,1 Andrea Berger, Gabriel Tzur und Michael I. Posner: Infant brains detect arithmetic errors. In: PNAS. Band 103, 2006, S. 12649–12653, doi:10.1073/pnas.0605350103
  40. Melissa E. Libertus et al.: Preschool acuity of the approximate number system correlates with school math ability. In: Developmental Science. Band 14, Nr. 6, 2011, S. 1292–1300, doi:10.1111/j.1467-7687.2011.01080.x
  41. 41,0 41,1 Alfredo Ardila: On the evolution of calculation abilities. In: Frontiers in Evolutionary Neuroscience. 23. Juni 2010, doi:10.3389/fnevo.2010.00007
  42. Hans J. Gross: Give me 5... The invention of number five in ancient civilizations. A consequence of our limited inborn numerical competence. In: Communicative & Integrative Biology. Band 4, Nr. 1, 2011, S. 62–63, [1], Volltext (PDF)
  43. W. Stanley Jevons: The Power of Numerical Discrimination. In: Nature. Band 3, Nr. 67, 1871, S. 281–282, doi:10.1038/003281a0, Volltext
  44. Georges Ifrah: Universalgeschichte der Zahlen. Campus Verlag, Frankfurt am Main 1986, S. 391–392, ISBN 3-88059-956-4
  45. Stanislas Dehaene et al.: Log or Linear? Distinct Intuitions of the Number Scale in Western and Amazonian Indigene Cultures. In: Science. Band 320, Nr. 5880, 2008, S. 1217–1220, doi:10.1126/science.1156540
  46. wörtlich: „This indicates that the mapping of numbers onto space is a universal intuition and that this initial intuition of number is logarithmic. The concept of a linear number line appears to be a cultural invention that fails to develop in the absence of formal education.“
  47. Elizabet Spaepen et al.: Number without a language model. In: PNAS. Band 108, Nr. 8, 2011, S. 3163–3168, doi:10.1073/pnas.1015975108