Spinale Muskelatrophie


Klassifikation nach ICD-10
G12.0 Infantile spinale Muskelatrophie, Typ I (Typ Werdnig-Hoffmann)
G12.1 Sonstige vererbte spinale Muskelatrophie
Kindheitsform, Typ II
Typ Kugelberg-Welander
Erwachsenenform
G12.9 Spinale Muskelatrophie, nicht näher bezeichnet
ICD-10 online (WHO-Version 2019)

Die Spinale Muskelatrophie (SMA) ist ein Muskelschwund, der durch einen fortschreitenden Untergang von motorischen Nervenzellen im Vorderhorn des Rückenmark verursacht wird. Sie tritt selten auf (10/100.000 Geborene/Jahr). Der Rückgang dieser sogenannten 2. Motoneurone bewirkt, dass Impulse nicht an die Muskeln weitergeleitet werden. Lähmungen mit den Charakteristika Muskelschwund (Atrophie) und verminderte Muskelspannung sind die Folge. Sind Hirnnerven betroffen, kommt es zusätzlich zu Einschränkungen der Schluck-, Kau- und Sprechfunktionen. In diesem Fall spricht man von einer Spinobulbären Muskelatrophie Typ Kennedy (SBMA) oder einer progressiven Bulbärparalyse.

Folgende Befunde lassen sich dabei erheben:

  • Muskelatrophie
  • Verminderung bis Erlöschen der Muskeleigenreflexe
  • EMG mit spontanen Faszikulationen als Ruheaktivität und gelichteten Mustern im Summenaktionspotential
  • Bluttest: fehlendes oder verändertes SMN1-Gen bei ca. 95 % der Betroffenen sowie verminderte Anzahl vorhandener SMN2-Kopien
  • Skoliose bei Typ I, Typ II und teilw. auch Typ III

Einteilung nach Schweregrad

Die SMA wird in verschiedene Schweregrade vom Typ I bis Typ IV eingeteilt:

SMA Typ I - Werdnig-Hoffmann (Akute infantile SMA):

  • Das freie Sitzen wird per definitionem nie erlernt
  • Die Erkrankung beginnt bereits in utero oder während den ersten 3 Lebensmonaten
  • Der Tod tritt meist in den ersten beiden Lebensjahren durch Ateminsuffizienz oder Infektion ein

SMA Typ II - chronische infantile SMA (Intermediäre SMA):

  • Freies Sitzen wird erlernt, Gehen ohne Hilfe nie möglich
  • Erkrankungsbeginn meist im ersten Lebensjahr
  • eingeschränkte Lebenserwartung

SMA Typ III - Kugelberg-Welander (Juvenile SMA):

  • Gehen ohne Hilfe möglich
  • IIIa: Beginn < 3 Jahre
  • IIIb: Beginn > 3 Jahre
  • Milder Verlauf
  • Lebenserwartung nicht deutlich reduziert

SMA Typ IV - Adulte SMA:

  • Erkrankungsbeginn > 30 Jahre
  • Unterschiedliches Fortschreiten
  • Normale Lebenserwartung

Historischer Hintergrund

Der Begriff der "progressiven spinalen Muskelatrophien" stammt aus dem Jahr 1893 und wurde von dem Heidelberger Neurologen Johann Hoffmann geprägt. Die bösartigste Verlaufsform, die infantile progressive spinale Muskelatrophie, wird benannt nach dem Grazer Neurologen Guido Werdnig, der im Jahre 1891 zwei Jungen mit der Erkrankung beschrieb, sowie Johann Hoffmann. Die wesentlich gutartiger verlaufende juvenile progressive spinale Muskelatrophie wiederum wird nach zwei Stockholmer Neurologen benannt, Eric Kugelberg und Lisa Welander. Sie haben 1956 die Erkrankung gegenüber Muskeldystrophien abgegrenzt. William R. Kennedy beschrieb die X-chromosomal rezessiv vererbte bulbospinale Muskelatrophie im Jahre 1968.

Vorkommen und Häufigkeit

Wie die anderen neuromuskulären Erkrankungen auch sind die spinalen Muskelatrophien relativ selten. Hinsichtlich der häufigsten Form, der infantilen Form, ist eine Häufigkeit von 1 pro 25.000 Geburten zu verzeichnen, bezüglich der juvenilen Form eine Häufigkeit von 1 pro 75.000 Geburten.

Symptomatik

Bei den spinalen Muskelatrophien handelt es sich um eine Gruppe von Erkrankungen, die auf einem Untergang von motorischen Nervenzellen (zweites motorisches Neuron, alpha-Motoneuron, Vorderhornzelle) im Rückenmark beruhen. Durch die Funktionsstörung und Untergang der Zellen des zweiten motorischen Neurons im Rückenmark kommt es zu einem Schwund und zur Schwäche der Muskulatur. Beim Gesunden ziehen sich Muskelfasern durch die Aktivierung durch Nervenfasern (Innervation) zusammen. Dadurch wird der Muskel je nach der Zahl der beteiligten Muskelfasern kürzer, er spannt sich an, eine Bewegung wird durchgeführt. Die Muskelfasern, die von den erkrankten Nervenfasern nicht mehr richtig angesprochen bzw. aktiviert (innerviert) werden, können sich nicht mehr zusammenziehen.

So wie der gesamte Muskel schmächtiger wird, wenn er nicht mehr eingesetzt wird, z.B. wenn ein Arm nach einem Knochenbruch einige Wochen im Gips ruhiggestellt wird, werden auch die einzelnen Muskelfasern schmächtig, wenn die sie aktivierenden Nervenfasern nicht mehr funktionstüchtig sind. Ist eine größere Zahl von Muskelfasern betroffen, sieht man auch die Substanzabnahme des Muskels. Da hier der Muskel nicht primär erkrankt ist, spricht man von einer sogenannten Muskelatrophie im Gegensatz zur Muskeldystrophie, wo der Muskel selbst erkrankt. Durch diesen Krankheitsprozess nehmen Kraft und Ausdauer des Muskels ab. Parallel läuft ein Reparaturmechanismus des Körpers ab. Die Muskelfasern, die nicht mehr durch eine Nervenfaser versorgt werden, können durch einen Spross einer erhaltenen Nervenfaser mitversorgt werden. Nahe an der entsprechenden Muskelfaser sprosst die erhaltene Nervenfaser aus, bildet einen Abzweig, der mit der Muskelfaser eine neue Verbindung (motorische Endplatte) bildet. Damit nimmt die Zahl der von einer Nervenfaser versorgten (innervierten) Muskelfasern zu.

Bei der infantilen Form der spinalen Muskelatrophie (Werdnig, Hoffmann) werden eine akute und eine intermediäre Form unterschieden. Die akute Form beginnt bereits vor der Geburt im Mutterleib. Die Kinder zeigen bei Geburt einen verminderten Muskeltonus, d.h. eine verminderte Muskelspannung. Die Spontanbewegungen sind vermindert. Die Kinder lernen nicht, den Kopf frei zu halten oder frei zu sitzen. Der Tod tritt innerhalb der ersten zwei bis drei Jahre aufgrund einer Atemschwäche ein. Bei der intermediären Form setzt die Schwäche in den ersten Lebensmonaten und -jahren ein. Die schon erlernten Fähigkeiten, zu gehen und zu stehen, gehen wieder verloren. Verkrümmungen der Wirbelsäule und Deformierungen des Brustkorbes treten auf. Ein Drittel der Kinder erleben den zehnten Geburtstag, einige Patienten überleben auch das 20. Lebensjahr. Die Erkrankung wird autosomal rezessiv vererbt. Der betroffene Genort ist der lange Arm des Chromosoms 5 (5q11.2-13.3).

Auch bei der juvenilen Form der progressiven spinalen Muskelatrophie (Kugelberg, Welander) ist der gleiche Genort wie bei den infantilen Formen betroffen. Die Erkrankung beginnt im Kindes- und Jugendalter, meist mit Schwächen im Bereich der Beckengürtelmuskulatur. Entsprechend fällt zuerst das schwerfällige Treppensteigen auf. Sie breitet sich im Verlauf auf die übrige Muskulatur aus, bleibt aber auch an den Armen rumpfnah, das heißt, der Schultergürtel ist zuerst betroffen. In Anbetracht des Beginns der Schwächen im Bereich der rumpfnahen Muskulatur hatte man die Erkrankung lange Zeit für eine Muskeldystrophie vom Gliedergürteltyp gehalten, also für eine Erkrankung des Muskels selber. Gelegentlich kann auch eine scheinbar besonders kräftige Wade zu sehen sein, allerdings weist sie nicht vermehrt intakte Muskelfasern auf, sondern Fett und Bindegewebe. Man spricht deshalb von einer Pseudohypertrophie (scheinbare Verdickung). Auch die CK, ein Muskelenzym ist oft erheblich erhöht, so dass die Annahme eine primären Muskelerkrankung nahe liegt. Auch die elektromyographische Untersuchung (EMG) und sogar die Muskelbiopsie können Hinweise auf eine primäre Muskelerkrankung geben. In der Regel sollten die Zeichen einer neurogenen Erkrankung, also einer Erkrankung primär der Nerven aber bei sowohl EMG wie auch Biopsie in die richtige Richtung weisen. Es gibt aber kaum eine Erkrankung, die so oft zu kontroversen diagnostischen Einschätzungen führt wie die juvenile pseudomyopathische Muskelatrophie (Kugelberg, Welander). Neben der Schwäche treten auch Kontrakturen der Gelenke und Fußdeformitäten (Hohlfuß, Spitzfuß) auf. Ein Teil der Patienten benötigt im Verlauf einen Rollstuhl.

Weiter gibt es eine Reihe von sogenannten adulten (im Erwachsenenalter auftretenden) Formen der spinalen Muskelatrophien. Sie beginnen im Erwachsenenalter und sind nur langsam fortschreitend. Beginnen sie mit einer Schwäche und Muskelatrophie an der Handmuskulatur, spricht man vom Typ Aran-Duchenne. Diese Begrifflichkeit führt gelegentlich zur Verwechslung mit dem Typ Duchenne der Muskeldystrophie, die beiden Erkrankungen haben aber nichts gemein. Tritt zuerst eine Schwäche der Fußheber auf, wird vom Peronäustyp der spinalen Muskelatrophie gesprochen, bei Beginn in der Schulter-Muskulatur vom Typ Vulpian-Bernhardt.

Die X-chromosomal vererbte bulbospinale Muskelatrophie Kennedy entwickelt sich in der dritten bis fünften Lebensjahrzehnt mit Schwächen der Muskulatur im Mundbereich und Schluckstörungen sowie Schwächen der rumpfnahen Muskulatur. Bei den betroffenen Männern findet sich auch oft eine vergrößerte Brust.

Unter einer progressiven Bulbärparalyse versteht man einen Krankheitsverlauf, der hauptsächlich die Sprech- und Schluckmuskulatur betrifft. Die Muskeln der Arme und Beine sind ausgespart. Charcot hatte diese Verlaufsform noch als separate Erkrankung beschrieben, wenige Jahre nach ihm betrachtete der französische Neurologe Dejerine die progressive Bulbärparalyse aber als eine Form der amyotrophischen Lateralsklerose, da in der Regel im Verlauf Schwächen der Arm- und Beinmuskulatur beobachtet wurden.

Oft wird auch von Motoneuron-Erkrankungen gesprochen. Dies beruht darauf, dass bei den spinalen Muskelatrophien das zweite motorische Neuron betroffen ist. Dieser Begriff wird besonders in den angloamerikanischen Ländern gebraucht. Er ist aber ungenau, da er alle Erkrankungen des ersten und zweiten motorischen Neurons umfasst. In der Regel werden darunter die spinalen und die amyotrophe Lateralsklerose zusammengefasst.

Diagnosestellung

Die Diagnosestellung der spinalen Muskelatrophien erfolgt unter Berücksichtigung der Anamnese (Schilderung der Entwicklung der Funktionsstörungen sowie ähnlicher Veränderungen in der Familie durch den Patienten), der ausführlichen körperlich-neurologischen Untersuchung sowie apparativer Zusatzuntersuchungen. Hier sind besonders die Messung der Nervenleitgeschwindigkeit (Elektroneurographie) und der Muskelströme (Elektromyographie, EMG) hervorzuheben. Zur Differentialdiagnose ist insbesondere die multifokale motorische Neuropathie heranzuziehen. Hier finden sich in verschiedenen Bereichen der Nerven Leitungsblöcke. Da diese Erkrankung einer spezifischen Therapie zugänglich ist, ist es wichtig, diese Differentialdiagnose nicht zu übersehen.

Zusatzuntersuchungen:

  • Nadelelektromyographie (EMG)
  • Motorische Elektroneurographie (NLG) einschließlich der Beurteilung der rumpfnahen Abschnitte
  • Sensible Elektroneurographie (NLG)
  • Laborchemische Untersuchungen
  • Röntgen-Aufnahme des Brustkorbs
  • molekulargenetische Analyse bezüglich Anzahl an SMN1- und SMN2-Genen

Eventuell notwendige Zusatzuntersuchungen:

Therapie der spinalen Muskelatrophien

Rehabilitation

Ziele der Therapie und insbesondere der Rehabilitation bei Patienten mit neuromuskulären Erkrankungen sind die Verbesserung und das Erhalten der Selbständigkeit in der Beweglichkeit und Selbstversorgung sowie der Teilhabe am sozialen Leben. Die Behandlung ist am besten durch ein interdisziplinär arbeitendes Team aus Ärzten, Krankenpflegern, Physiotherapeuten (ehemals Krankengymnastik), Ergotherapeuten, Logopäden, Psychologen und Sozialarbeitern.

Ambulante Therapien wie Physiotherapie, Ergotherapie und Lopopädie sind notwendig zum Aufrechterhalten der vorhandenen Fähigkeiten. Stationäre Behandlungsmaßnahmen (Rehabilitation) mit einer Dauer von ca. 4 - 6 Wochen sind dringend zu empfehlen, um latent vorhandene Fähigkeiten und muskuläre Funktionen zu verbessern und den Verlauf günstig zu beeinflussen.

Die Schwäche der Muskulatur ist die wesentliche Ursache der meisten klinischen Probleme der spinalen Muskelatrophie. Es gibt eine Reihe gut kontrollierter Studien, die die Effekte von Übung und Training auf die Muskelstärke von Patienten mit neuromuskulären Erkrankungen untersucht haben. Bei langsam fortschreitenden neuromuskulären Erkrankungen brachte ein 12-wöchiges Training mit moderatem Widerstand in einer Zunahme der Kraft um 4 bis 20 % ohne negative Effekte. In der gleichen Patientengruppe hatte ein Training mit kräftigem Widerstand über 12 Wochen keine zusätzlichen Nutzen gezeigt, aber Hinweise auf eine Schwäche durch Überbelastung bei einigen Patienten. Es gibt Hinweise, dass die Therapieverfahren für die verschiedenen neuromuskulären Erkrankungen unterschiedlich effektiv sind, hier müssen aber weitere Untersuchungen abgewartet werden, bis gesicherte Aussagen gemacht werden können.

Bei rasch fortschreitenden neuromuskulären Erkrankungen ist das Risiko einer verstärkten Schwäche durch zu intensives Training groß. Training soll bei diesen Patienten mehr mit dem Ziel der Funktionsbesserung, nicht primär mit dem Ziel der Kräftigung erfolgen. Grundsätzlich sollten Patienten mit neuromuskulären Erkrankungen angehalten werden, nicht bis zur Erschöpfung zu trainieren. Die Patienten, die beübt werden, sollten über die Warnzeichen einer Überbelastung informiert werden. Hierzu gehören ein Schwächegefühl innerhalb von 30 Minuten nach der Übung oder Muskelschmerzen 24 bis 48 Stunden nach dem Training. Andere Warnsignale beinhalten ausgeprägte Muskelkrämpfe, Schweregefühl von Armen und Beinen und anhaltende Kurzatmigkeit.

Dennoch ist aber durch Training mit leichter bis mäßiger aerober Belastung wie Gehen, Schwimmen und Fahren auf dem Ergometer eine Verbesserung der muskulären Ausdauer und der Leistungsfähigkeit des Herz-Kreislauf-Systems und damit eine Minderung der Schwäche zu erzielen. Das Training erreicht nicht nur eine Besserung der körperlichen Leistungsfähigkeit, sondern trägt auch bei, ein günstiges Körpergewicht zu halten, Schmerzen durch Fehlbelastungen zu mindern und depressive Verstimmungen zu bessern.

Bei einer Reihe neuromuskulärer Erkrankungen sind Kontrakturen, das heißt Einsteifungen der Gelenke und Skoliose, also Verkrümmungen der Wirbelsäule, häufige Probleme. Die Patienten müssen regelmäßig darauf untersucht werden. Besonders groß ist die Gefahr bei Rollstuhlabhängigkeit und Abnahme der Kraft der Rumpfmuskulatur. Vorsichtiges Dehnen der betroffenen oder gefährdeten Gelenke sind notwendig.

Im Einzelfall können Orthesen, also Apparate zur Stabilisierung und Funktionsverbesserung von Gelenken bewirken. Beispielsweise wird durch die Fußheber-Orthese, oft Peroneus-Schiene genannt, eine Verbesserung des Gehens erreicht bei Patienten, die eine Schwäche der Fußheber aufweisen.

Physiotherapie dient also dem Erhalten der Kraft bzw. Kräftigung, vor allem aber der Funktionsverbesserung und -erhaltung, der Optimierung der Koordination. Die Verbesserung der Ausdauer ist ebenso ein wichtiges Ziel wie das Dehnen verkürzter Muskulatur zur Verhinderung von Kontrakturen. Die Physiotherapie strebt weiter die Verbesserung von Durchblutung und Stoffwechsel an. Die Orthostase-Funktionen, also die Fähigkeit, den Kreislauf beim Stehen aufrechtzuerhalten, Osteoporose und Fehlhaltungen zu vermeiden, sind weitere Ziele der Physiotherapie.

Auch bei Störungen der Lungenfunktion ist Physiotherapie notwendig, einerseits zum Training der entsprechenden Muskulatur, andererseits zum Erleichtern des Abhustens.

Ergotherapie hat ähnliche Ansätze wie Physiotherapie, entwickelt ihren Schwerpunkt aber im Bereich der Arme und des Rumpfes. Eine Domäne der Ergotherapie ist die Versorgung mit Hilfsmitteln, zum Beispiel Greifzangen, Rollstuhl, Aufrichthilfen, Toilettensitzerhöhungen. Ebenso stellt das Beüben alltagsrelevanter Aufgaben (ADL = Activities of daily living; engl.) einen wichtigen Bereich dar.

Physikalische Therapie umfasst die verschiedenen Formen der Massagen, die Wärme- und Kälte-Therapie (Thermotherapie), die Balneotherapie (Bädertherapie) und die Elektrotherapie.

Massagen dienen der Lockerung der verspannten Muskulatur, der Tonusverbesserung, der Verbesserung der Durchblutung und Ernährung der Muskulatur (Trophikverbesserung) durch Knetungen, Walkungen, Streichungen, Vibrationen und Bindegewebsmassage.

Die Thermotherapie (Wärme- und Kälte-Therapie) bietet Möglichkeiten, ebenfalls zu einer Lockerung von Muskeln beizutragen. Hierzu gehören Überwärmungsbad, Sauna, Packungen (Fango, Moor) und Heiße Rolle. Bei umschriebenen Reizungen von Gelenken, beispielsweise bedingt durch Fehlbelastungen, kann die lokale Kryotherapie, also Kälte, eingesetzt werden.

Elektrotherapie wird vorwiegend zur Schmerztherapie und zur Stimulation von Muskelgruppen eingesetzt. Durch nieder- und mittelfrequente Ströme werden Nerven und Muskeln stimuliert.

Der Einsatz von Exponentialstrom als niederfrequentes Stromverfahren ist eine gezielte Stimulation von Muskelfasern, die nicht mehr von Nerven versorgt werden, sogenannte denervierte Muskelfasern, möglich. Intakte und von Nerven versorgte Muskelfasern werden durch Schwellstrom stimuliert. Beide Stromarten können bei neuromuskulären Erkrankungen sinnvoll sein, um Muskulatur anzusprechen, eventuell die Durchblutung zu verbessern, dem Patienten das Bewegungsgefühl wiederzugeben.

Bei der transkutanen elektrischen Nervenstimulation (TENS) handelt es sich um ein Verfahren zur Schmerztherapie. Dabei werden Oberflächenelektroden auf die Haut geklebt. Hierüber wird ein angenehmer Strom beigebracht, der eine Erregung der schnell leitenden sensiblen Nervenfasern bedingt. Im Rückenmark wird durch den Einstrom dieser Impulse der Einstrom von Impulsen der Schmerz leitenden langsameren Fasern gehemmt. Es wird quasi das Tor für den Schmerz geschlossen. Die Impulse sollen angenehm sein, keinesfalls schmerzhaft. Das Verfahren ist gut verträglich. Es soll aber nicht ständig eingesetzt werden, sondern mehrfach am Tag für etwa 20 Minuten, bei Bedarf auch etwas länger. Wird es kontinuierlich angewendet, ist die Gefahr einer Toleranzentwicklung groß.

Auch die Galvanisation ist eine Stromform zur Schmerzminderung. Es handelt sich um Gleichstrom, der entweder durch Gelenke (als Quergalvanisation) oder durch den ganzen Körper (Stangerbad, Vierzellenbad) geleitet wird. Er wirkt neben der Schmerzlinderung auch durchblutungsverbessernd. Beim Stangerbad und Vierzellenbad kommt es darauf an, wie die Polung erfolgt, also ob die Kathode oben und die Anode unten am Körper (aufsteigend) oder umgekehrt (absteigend) angebracht sind. Es kann entweder eine Erhöhung (aufsteigend) oder Verminderung (absteigend) des Aktivitätsniveaus der Nervenzellen des Rückenmarks erfolgen. Will man eine Verminderung der Aktivität von Nervenzellen beispielsweise bei einer spastischen Tonuserhöhung erreichen, so wird absteigend geschaltet. Will man bei einer schlaffen Lähmung, also zum Beispiel bei einer spinalen Muskelatrophie, eine Erhöhung der Spannung der Muskulatur erreichen, so wird aufsteigend geschaltet.

Interferenzstrom ist ein Mittelfrequenzverfahren, welches einen massageähnlichen Effekt hat und damit die Muskulatur lockern kann.

Kurzwelle (Diathermie) ist ein Hochfrequenzverfahren, welches eine Wärmebildung in der Tiefe und damit ebenfalls einen entspannenden und lockernden Effekt auf die Muskulatur erreicht.

Ultraschall-Therapie führt ebenfalls zu einer Wärmebildung im Gewebe, sie verbessert Durchblutung und Stoffwechselvorgänge.

Störungen der Lungenfunktion

Schwächen der Brustwandmuskulatur, des Zwerchfells und der Bauchmuskulatur können zu Störungen der Lungenfunktion führen. Die verschiedenen neuromuskulären Erkrankungen führen in unterschiedlichem Ausmaß zu diesen Beeinträchtigungen, je nachdem, welche Muskelgruppen durch die Erkrankung vorzugsweise betroffen sind. Bei Erkrankungen, die die Atemmuskulatur im Verlauf regelmäßig mit betreffen, sollten routinemäßig Lungenfunktionsuntersuchungen erfolgen. Auch sollten Patienten darüber informiert sein, welche Zeichen auf eine nächtliche Störung der Atmung hinweisen. Vor allem regelmäßiger morgendlicher Kopfschmerz, Unruhe oder Albträume in der Nacht, das Gefühl, morgens wie gerädert aufzuwachen, und ein nicht erholsamer Schlaf müssen an diese Problematik denken lassen. Auch eine vermehrte Tagesmüdigkeit kann sich hieraus ergeben. In den letzten Jahren wurden gute Fortschritte in der Möglichkeit der oft nur nachts notwendigen Heimbeatmung gemacht. Die Geräte sind heute klein, leise, wenig belastend.

Psychologie

Oft werden bei Patienten mit neuromuskulären Erkrankungen depressive Störungen beobachtet. Ursache ist oft die Verarbeitung der Erkrankung, oft sind es aber auch Probleme der sozialen Integration und des Erhalts des Arbeitsplatzes. Selbsthilfegruppen können hier ganz wichtige Hilfestellungen geben, die Teilnahme an Selbsthilfegruppen ist den Patienten sehr zu empfehlen. In Deutschland ist die Deutsche Gesellschaft für Muskelkranke in vielen Regionen sehr aktiv. Mitglieder der Gruppen stellen auch Hilfestellungen dar beim Lösen sozialer Probleme oder bei der Beratung bzgl. Hilfsmitteln.

Die Krankheitsverarbeitung spielt bei allen Erkrankungen eine wichtige Rolle. Insbesondere bei chronisch fortschreitenden Erkrankungen ist es oft schwierig, eine konstruktive Einstellung zum Umgang mit der Erkrankung zu finden. Aber nur mit einer positiven Einstellung kann der Patient Therapiemöglichkeiten und Chancen optimal wahrnehmen. Gesprächsgruppen oder psychologische Einzelbehandlungen, z.B. im Rahmen einer stationären Rehabilitation, können hier sinnvoll sein.

Wichtig ist auch, von Anfang an zu beachten und zu begleiten wie sich die Interaktion mit dem sozialen Umfeld, die Abhängigkeit von Pflegepersonen (Familie) und deren eigene Überforderung auswirkt, um die Entwicklung eines tragenden Selbstbewusstseins und eine konstruktiven Lebensperspektive zu ermöglichen.

Ergänzend kommen Entspannungsverfahren wie das autogene Training oder die progressive Muskelrelaxation nach Jacobson zum Einsatz.

Orthopädische Maßnahmen

Bei Wirbelsäulenverkrümmung (Skoliose) und bestimmten Gelenkveränderungen können operative Maßnahmen sinnvoll sein. Dagegen kann die Behandlung von (schmerzhaften) Gelenkveränderungen oder Fehlstellung, beispielsweise durch Orthesen die Bewegungsfähigkeit verbessern.

Hilfsmittel

Eine Reihe von Hilfsmittel können die Bewältigung der Beeinträchtigungen durch die Krankheit erleichtern oder erst ermöglichen. Hierzu können gehören Duschstuhl, Badewannen-Lifter, Toilettensitzerhöhungen, Rollstuhl, Rampen für den Rollstuhl, Krankenbett, aber auch kleine Hilfen wie Greifzangen. Hier muss ganz individuell herausgesucht und zusammengestellt werden, welche Hilfsmittel für den einzelnen sinnvoll und notwendig sind. Ebenfalls eine Erleichterung für die Vitalfunktionen, insbesondere bei Skoliosen und/oder bei Lungenproblemen, sind flexibel gestaltete korsettähnliche, teilflexible Bandagen und Soft-Body-Jackets, hierbei wird teils aktiv die Restrumpfmobilität stabilisiert und die Atemfunktion mit Hilfe der Abdomen-und Rumpf-Kompression erleichtert.

Andere Therapieoptionen

Das Verständnis für die molekulare Basis vieler neuromuskulärer Erkrankungen hat die diagnostische Genauigkeit erhöht und mag die Basis für gezielte therapeutische Maßnahmen bringen. Es gibt vielversprechende Ideen, das Erbgut, die DNA, zu "reparieren", beispielsweise ein fehlendes Gen einzufügen. Vielleicht kann damit eines Tages das Fortschreiten einer Erkrankung aufgehoben oder sogar eine Erkrankung geheilt werden.

Am Institut für Humangenetik des Universitätsklinikums Köln wird die Wirkung von Valproinsäure in der Therapie von SMA erprobt. Da es sich bei Valproinsäure um ein bereits zugelassenes Antiepileptikum handelt, ist die Erprobung an betroffenen Patienten ethisch vertretbar und rechtens. Die bisherigen Erfolge sind mit gewissen Einschränkungen sehr vielversprechend. [1]

Sozialmedizinische Aspekte

Hierbei können verschiedene Aspekte zur Sprache kommen. Gilt es zum Beispiel den Arbeitsplatz zu retten, kann das Beantragen einer der Behinderung angepassten Arbeitsplatzeinrichtung wie evtl. auch die Vereinbarung zusätzlicher Pausen wichtige Unterstützung bringen. Die Sozialarbeiter können bei diesen Problemen beraten und unterstützen. Sie wissen, welche Kostenträger hierfür anzufragen sind. Auch die Beratung mit der Frage der (Teil-)Berentung kann wichtige Hilfestellungen geben. Bei schwerer betroffenen Personen müssen die Leistungen nach dem Pflegegesetz oder dem Sozialgesetzbuch IX bekannt sein. Auch hier muss man wissen, an wen man sich als Betroffener wenden muss.

Stationäre Behandlungsmaßnahmen (Rehabilitation)

Regelmäßige ambulante Behandlungen sind in der Regel erforderlich, um Fähigkeiten kontinuierlich auf einem möglichst stabilen Niveau zu erhalten. Um latent vorhandene Fähigkeiten und muskuläre Funktionen zu verbessern, den Verlauf damit günstig zu beeinflussen, ist die stationäre Rehabilitation notwendig. Sie sollte in regelmäßigen Abständen erfolgen. Wenn die Erkrankung durch Verschlechterung von Funktionen es erfordert, kann sie in verkürzten Abständen erfolgen, beispielsweise jährlich. Mit einem entsprechenden Antrag durch den Hausarzt oder betreuenden Neurologen wenden Sie sich an den zuständigen Kostenträger. Für Berufstätige ist der zuständige Kostenträger der Rentenversicherungsträger, also BfA oder LVA. Geht es bei der Reha-Maßnahme nicht um den Erhalt der Arbeitsfähigkeit, ist in der Regel die Krankenkasse anzusprechen.

Neuromuskuläre Erkrankungen sind selten. Deshalb ist es wichtig, dass die Behandlung in einer Rehabilitationsklinik stattfindet, die in der Behandlung neuromuskulärer Krankheitsbilder versiert ist. Es ist erforderlich, dass die Therapeuten regelmäßig Patienten mit neuromuskulären Erkrankungen behandeln. Intensität und Art der Behandlung unterscheiden sich deutlich von der Behandlung anderer neurologischer Erkrankungen.

Spinale Muskelatrophie mit Atemnot Typ 1

Die Spinale Muskelatrophie mit Atemnot Typ 1 (genannt SMARD1, von engl. spinal muscular atrophy with respiratory distress) wurde neben der klassischen SMA als zweite Vorderhornerkrankung im Säuglings- und Kleinkindalter genetisch aufgeklärt und unterscheidet sich vor allem dadurch, dass hier zu Beginn der Krankheit bereits die Atemnot beim Patienten feststellbar ist.

  • Alter: 1 bis 6 Monate
  • ZwerchfellpareseDyspnoe
  • besonders distal an den Fußgelenken ausgeprägte Muskelschwäche

Ursache

Mutationen im IGHMBP2-Gen

Tiermedizin

Eine erblich bedingte spinale Muskelatrophie tritt auch bei einigen Hunderassen auf (siehe Degenerative Myelopathien der Hunde).

Literatur

  • Adele D’Amico, Eugenio Mercuri, Francesco D Tiziano, Enrico Bertini: Spinal muscular atrophy. Orphanet Journal of Rare Diseases, 2011, 6: 71 (PDF)
  • Christian L. Lorson, Hansjorg Rindt, Monir Shababi: Spinal muscular atrophy: mechanisms and therapeutic strategies. Human Molecular Genetics, 2010, Vol. 19, Review Issue 1, S. R111–R118, doi:10.1093/hmg/ddq147

Einzelnachweise

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